Die Rolle von Bundestag und Bundesrat in der europäischen Rechtsetzung
Die Rolle von Bundestag und Bundesrat in der europäischen Rechtsetzung

Die Rolle von Bundestag und Bundesrat in der europäischen Rechtsetzung

Beitrag, Deutsch, 41 Seiten

Autor: Dr. Cordula Scirica

Herausgeber / Co-Autor: Peter-Christian Müller-Graff

Erscheinungsdatum: 2008

ISBN: 3832933336

Quelle: Deutschlands Rolle in der Europäischen Union

Seitenangabe: 287-327


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Preis: 64,-- €

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Zum Band

Deutschlands Rolle in der Europäischen Union ist im Vorfeld und Umkreis der Deutschen Ratspräsidentschaft des Jahres 2007 vielfältig thematisiert worden. So stammt etwa vom ehemaligen Präsidenten der Republik Polen Aleksander Kwasniewski das große und verantwortungsmahnende Wort: „Europas Zukunft hängt von der Zukunft Deutschlands ab“. Dies kann in einem Integrationsverband gewiss nicht bedeuten, dass es allein auf ein einziges Land ankommt. Jedoch trägt Deutschland als großes Land in der Mitte des europäischen Kontinents zweifelsohne eine spezifische Verantwortung. Inwieweit Deutschland dieser Verantwortung gerecht wird und werden kann, war Gegenstand des interdisziplinären Jahreskolloquiums des Arbeitskreises Europäische Integration. Der vorliegende Band enthält die zehn Texte, die zur Veröffentlichung bearbeitet wurden, ergänzt um drei weitere Beiträge. Sieben Erörterungen widmen sich Grundlagenfragen (Maurer, Müller-Graff, Breuss, Wessels/Diedrichs, Schmid, von Ruckteschell, Wessels), sechs Untersuchungen befassen sich mit Einzelfragen (Fastenrath, Heinemann, Teichmann, Folz, Janowski, Hrbek).

Leseprobe

I. Einleitung
Die anhaltende Diskussion um das sogenannte Demokratiedefizit der Europäischen Union (EU)
hat seit der Unterzeichnung des Maastrichter Vertrags einen neuen Akteur ins Spiel gebracht: die
nationalen Parlamente. Lange auf eine Zaungastrolle beschränkt, werden die nationalen
Parlamente seit 1992 fast einhellig als zentrale Säule der demokratischen Legitimation der EU
betrachtet. Diese Sichtweise geht maßgeblich auf die Überlegungen des
Bundesverfassungsgerichts zurück, das in seinem Maastricht-Urteil die „Rückkopplung“ von
Entscheidungen der EU an die nationalen Parlamente als zur hinreichenden Legitimation der EU
notwendig postulierte (BVerfGE 89: 185). Das daraus abgeleitete „duale Legitimationsmodell“,
demnach erst die nationalen Parlamente – auf zwar indirekte, jedoch entscheidende Weise – die
Legitimität der EU herstellen, gilt heute als herrschende Meinung (Moravcsik 2002, 1993; Kluth
1995). Diese bricht zugleich mit zwei Jahrzehntealten Annahmen: 1. dass Europapolitik ein Teil
der Außenpolitik sei, daher einer Prärogative der Regierungen unterliegt und somit weitgehend
aus dem Einflussbereich der nationalen Parlamente und ihrer Kontrollinstrumente ausgenommen
ist, sowie 2. dass eine rein ergebnisorientierte Legitimation der EU und ihrer vielfältigen
Tätigkeiten hinreichend ist – wie dies über Jahrzehnte hinweg fast einhellig angenommen wurde
(Ronge 1998, Kielmansegg 1996).
Die These einer indirekten Legitimationskette von den nationalen Parlamenten zur EU
setzt allerdings voraus, dass die nationalen Parlamente die Europapolitik ihrer Regierungen effektiv

kontrollieren und auf diese Weise europapolitisch mitwirken. In Deutschland ist dies seit
der Änderung von Artikel 23 Grundgesetz (GG) verfassungsrechtlich geboten und geht einher mit
einem grundlegend gewandelten Selbstverständnis des Deutschen Bundestages hinsichtlich seiner
Rolle in Europa: anders als in der Vergangenheit stellt sich Europapolitik zunehmend als
Kernkompetenz des Bundestages dar. Die Menge an Dokumenten, die die EU jährlich generiert,
hat allerdings in vielen nationalen Parlamenten in der EU organisatorische Fragen aufgeworfen.
Vorhandene inner-parlamentarische Strukturen sind zunehmend gefordert, die wachsende Anzahl
an EU-Angelegenheiten effektiv zu verarbeiten. Neben die rein organisatorische „Abwicklung“
von EU-Angelegenheiten ist zudem die Frage einer inhaltlichen Auseinandersetzung insbesondere
mit Vorlagen für europäische Rechtsakte getreten. Der Bedarf nach einem koordinierenden
Gremium scheint daher spätestens seit der Gründung einer Europäischen Politischen Union
ebenso akut wie jener nach geeigneten Prozessen zur inhaltlichen Bewältigung der vielfältigen
EU-Angelegenheiten. Dies lenkt den Blick auf die Europa-Gremien und deren Beschlussrechte,
die als institutionelle und formale Reaktion der Parlamente auf die Europäisierung ihrer Prozesse
zu werten sind.
Ausgehend von diesen Überlegungen wird im folgenden zunächst die „Entdeckung“ der
nationalen Parlamente im historischen Kontext der Integrationsentwicklung nachgezeichnet.
Erstaunlicherweise kamen die Europäischen Gemeinschaften (EG) viele Jahre ohne jeden
parlamentarischen Einfluss aus. Dies bedeutet bereits der lange Prozess zu einer der wichtigsten
demokratischen Maßnahmen der: dem europäischen Direktwahlakt. Ähnlich zäh verlief die
Diskussion um ein „echtes“ Mitentscheidungsrecht des Europäischen Parlaments, das bis
Maastricht eine weitgehend beratende Funktion einnahm und allenfalls als informelle Veto-Macht
betrachtet werden konnte. Umso interessanter ist dabei, dass das Kodezisionsverfahren, das dem
Europäischen Parlament erstmals eine gestalterische Funktion in der europäischen Rechtsetzung
zugesteht, zu einem Zeitpunkt erlassen wurde, da sich die Debatte um das sogenannte
Demokratiedefizit der EU auf einem vorläufigen Höhepunkt befand. Die damit zeitgleich
einhergehende „Entdeckung“ der nationalen Parlamente erscheint im historischen Kontext der
Integrationsentwicklung durchaus als „plötzlich“ und ist von der Entdeckung des
Demokratiedefizits kaum zu trennen. Dieser wichtige Erkenntnisprozess wird im folgenden in
seinen Grundzügen nachgezeichnet.
Die Entwicklung des Einigungsprojekts schlägt sich nicht nur in historischen
Entscheidungen, wie dem Vertrag zur Gründung einer Politischen Union nieder; gleichzeitig ist
der Umfang an sekundärrechtlichen Maßnahmen mit jedem historischen Entwicklungsschritt der
EG/EU gestiegen. Die Empirie verdient eine Betrachtung schon deshalb, da sich erst hieran die
Rechtsetzungstätigkeit der EU ermessen lässt. Erst die Betrachtung der empirischen Fakten lässt
eine Bewertung darüber zu, ob der häufig geäußerte Unmut über die vermeintliche „Brüsseler
Regelungswut“ gerechtfertigt ist. Ungeachtet dieser Frage, die eher die Perspektive des Bürgers
zur EU und das vieldiskutierte Thema der europäischen Bürgernähe betrifft, hat die rechtsetzende
Kreativität der EG-Organe für die nationalen Parlamente in jedem Fall eine nachhaltige
Bedeutung: denn mit jeder Übertragung von Hoheitsrechten an die EG/EU büßen die nationalen
Parlamente zwangsläufig in ihrer Funktion als „Gesetzgeber“ (von Beyme 1999: 252 ff.) an
Schöpfungskraft ein. Dies gilt zumindest im Fall von EG-Verordnungen und -Entscheidungen,
jedoch auch in Falle von EG-Richtlinien, die zwar von den nationalen Parlamenten in nationales
Recht umzusetzen sind und erst hierdurch rechtliche Wirksamkeit erlangen; dennoch verbleibt
zumindest die Rahmensetzung bei den EG-Organen, so dass der politische Gestaltungsspielraum
der nationalen Parlamente ebenfalls begrenzt ist.
Der Blick auf die „Europäisierung“ der nationalen Parlamente durch EU-Angelegenheiten
bedarf freilich einer erweiterten Betrachtung, ob und wie die nationalen Parlamente auf diese
Entwicklungen reagiert haben. Zumindest der Deutsche Bundestag wurde durch den EU-Vertrag
zum Handeln gezwungen, wie die vieldiskutierte Grundgesetzänderung von 1993 vermuten lässt.
Das Postulat einer „Rückkopplung“ europäischer Entscheidungen an die nationalen Parlamente
geht allerdings weit über die passive organisatorische Abwicklung von EU-Vorlagen bzw. die
Umsetzung von EG-Richtlinien hinaus. Spätestens seit dem Maastricht-Urteil steht vielmehr die
Frage einer europapolitischen Mitwirkung der nationalen Parlamente im Raum, die ein bisher
ungekanntes gestalterisches Element fast voraussetzt: Bundestag und Bundesrat scheinen
zumindest seit Maastricht eine aktive Rolle im europäischen Rechtsetzungsprozess der EU
einzunehmen. Diese Annahme wird im dritten Teil eingehend beleuchtet und beinhaltet eine
Reihe von Fragen, denn die Annahme einer europapolitischen Mitwirkung besagt zunächst nichts
über ihre Ausführung. Neben die Frage nach formalen Mitwirkungsrechten tritt jene nach einer
geeigneten institutionellen Grundlage, die insbesondere in den Arbeitsparlamenten Kontinental-
EU-Europas die Existenz eines Europa-Ausschusses voraussetzt.
Formale und institutionelle Handlungsmöglichkeiten entfalten jedoch erst dann politische
Wirksamkeit, wenn ihre effektive Anwendung nachweisbar ist. Mehr noch, als die rein
feststellende Betrachtung formaler Rechte und Möglichkeiten, interessiert somit ihr Effekt in der
politischen Praxis. Eine intensive empirische Betrachtung würde freilich den hier gegebenen
Rahmen sprengen, daher soll in einer abschließenden Betrachtung auf existierende Studien zurück
gegriffen werden (Janowski 2005a; Maurer/Wessels 2001; Weber-Panariello 1995), die einen
Eindruck der Problematik vermitteln können. Erst an der Verfassungswirklichkeit misst sich, ob
die Verfassungstheorie bestand hat. Dies gilt auch für das duale Legitimationsmodell: ist auf
seiner Grundlage eine Mitwirkung der nationalen Parlamente an Entscheidungen der EU und
insbesondere an ihrer Rechtsetzung in der Praxis nicht nachweisbar, bleibt es ein theoretisches
Konstrukt ohne Effekt auf die Praxis.

 

Dr. Cordula Scirica

GB, Cheshunt (Hertfordshire)

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