Thesen zur zukünftigen betriebsärztlichen Tätigkeit
Thesen zur zukünftigen betriebsärztlichen Tätigkeit

Thesen zur zukünftigen betriebsärztlichen Tätigkeit

Beitrag, Deutsch, 6 Seiten, Arbeitsmedizin - Sozialmedizin - Umweltmedizin

Autor: Dr. Mathias Dietrich

Erscheinungsdatum: 1997

Quelle: Arbeitsmedizin - Sozialmedizin - Umweltmedizin

Seitenangabe: 110-115


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Arbeitsmedizin - Sozialmedizin - Umweltmedizin

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Ausgangslage:

Mit dem Arbeitssicherheitsgesetz von 1973 ist ein Instrument geschaffen worden, den Gesundheitsschutz der arbeitenden Bevölkerung auf einheitlicher Grundlage zu regeln. Die folgenden Jahre haben gezeigt, daß die deutsche Ärzteschaft auf diese neue Aufgabe sehr rasch reagieren konnte und, unterstützt durch arbeitsmedizinische Hochschulinstitute und Akademien, in außerordentlich kurzer Zeit eine große Zahl qualifizierter Betriebsärzte zur Verfügung stellen konnte. Deren Arbeit hat in den vergangen Jahren ganz wesentlich zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen beigetragen.

Es zeigten sich allerdings auch rasch Mängel des so entstandenen Arbeitsschutzsystems, deren wesentlichste hier genannt seien:

Ø Schnellkurse für die ersten Betriebsärzte führten zu einer stark eingeschränkten „Basisqualifikation“, ebenso die auch heute noch übliche „autodidaktische Weiterbildung“ zur Zusatzbezeichnung Betriebsmedizin.

Ø Kleine Unternehmen wurden aufgrund der Mindestgrenzen in VBG 123 nicht arbeitsmedizinisch betreut.

Ø Sicherheitsfachkräfte in mittleren und kleinen Unternehmen waren nebenberuflich tätig und hatten daher oft wenig Zeit für Sicherheitsarbeit.

Ø Die Inhalte betriebsärztlicher Tätigkeit waren in § 3 ASiG zu pauschal formuliert und wurden zu wenig kontrolliert, wodurch die Qualität betriebsärztlichen Handelns enorm differierte.

Diese und andere Schwierigkeiten führten dazu, daß unter Betriebsärzten und in der Ärzteschaft allgemein die zukünftige Struktur betriebsärztlicher Versorgung immer intensiver diskutiert wird, aber auch in Parteien, Unternehmerverbänden, Gewerkschaften und Berufsgenossenschaften. Im wesentlichen stehen folgende Fragen zur Diskussion:

Ø Ist die Qualität der Betriebsärzte ausreichend?

Ø Ist die Organisation betriebsärztlicher Einrichtungen geeignet, optimale Versorgung sicherzustellen?

Ø Unterstützen die Unternehmen die betriebsärztliche Tätigkeit ausreichend?

Ø Ist die Fortbildung von Betriebsärzten ausreichend?

Ø Sind die Einsatzzeiten ein adäquates Planungs-, Steuerungs- und Vergütungsinstrument?

Ø Können privat organisierte Betriebsarztzentren hochqualitative Arbeit in Unternehmen jeder Art leisten, oder sind hierzu nur Berufsgenossenschaften selbst in der Lage?

Zu diesen in der Öffentlichkeit breit diskutierten Themen kommen noch folgende Fragen hinzu, die bislang lediglich im Kreis der Betriebsärzte selbst diskutiert werden:

Ø Welchen Einfluß auf die Effektivität der betriebsärztlichen Arbeit hat die Arbeit der Sicherheitsfachkraft und umgekehrt?

Ø Welche Formen der interdisziplinären Zusammenarbeit sind notwendig zur Sicherung eines optimalen betrieblichen Gesundheitsschutzes?

Ø Wie können Möglichkeiten zur Forschung des Betriebsarztes selbst geschaffen werden, also außerhalb der Hochschulen?

Ø Wie können die Gewerbeärztlichen Dienste effektiver gestaltet werden und somit als Partner und Berater dem einzelnen Betriebsarzt besser zur Verfügung stehen?

Ø Welchen Sinn haben unzählige Einzelermächtigungen neben der eigentlichen arbeitsmedizinischen Fachkunde nach Weiterbildungsordnung?

Die nachfolgenden Ausführungen sollen Lösungswege aufzeigen.

I. Qualifikation des Betriebsarztes

Anforderungen:

Die Betreuung von Arbeitnehmern an modernen Arbeitsplätzen erfordert vom Betriebsarzt neben den selbstverständlichen medizinischen auch ein hohes Maß an technischen, organisatorischen und (arbeits)psychologischen Kenntnissen. Er muß in der Lage sein, dieses Wissen betriebsbezogen aufzuarbeiten und die so gewonnenen Erkenntnisse überzeugend in die Beratung betrieblicher Entscheidungsträger einzubringen.

Weiterbildungsgänge zur arbeitsmedizinischen Fachkunde im weitesten Sinne müssen daher zum Ergebnis haben, daß der Betriebsarzt unabhängig von Branche und Betriebsgröße ein kompetenter Gesprächspartner und Berater ist in allen Fragen des Zusammenwirkens von Mensch und Arbeitsplatz. Sie müssen daher so gestaltet sein, daß sie nicht durch weitere Lehrgänge, Seminare und Ermächtigungen ergänzt werden müssen.

Mängel:

Die zumeist ausschl. auf medizinische Sachverhalte konzentrierte Weiterbildung berücksichtigt nicht die Notwendigkeit, technisches, organisatorisches und psychologisches Fachwissen zu erwerben. Trotzdem berücksichtigt sie auch rein medizinische Inhalte der Arbeitsmedizin so wenig, daß sich Verordnungsgeber bemüßigt fühlen, zahlreiche Einzelaspekte der betriebsärztlichen Untersuchungstätigkeit zusätzlich separat zu regeln und z. T. nach eigener Ausbildung zusätzlich abzuprüfen.

Noch weitergehende Probleme ergeben sich bei der „autodidaktischen“ Form der Weiterbildung zur Zusatzbezeichnung „Betriebsmedizin“, ein Weiterbildungsgang, der völlig ohne die fachkundige Anleitung eines erfahreneren Arztes auskommt. Die theoretischen Grundlagenlehrgänge sind kein Ersatz für eine solche Anleitung.

Es handelt sich hier um eine ungewöhnliche Ausnahme der Weiterbildungsordnung, die lediglich in der Zusatzbezeichnung „Sportmedizin“ noch eine Parallele findet. In beiden Fällen finden sich keine Argumente, die den Verzicht auf volle persönliche Qualifikation trotz identischer Befugnisse begründen könnten. Die Existenz dieser Art von Fachkunde dokumentiert überflüssigerweise, daß betriebsärztliche Tätigkeit offenbar lediglich eine Minimalqualifikation erfordert, daß ihr Stellenwert demnach nicht sonderlich hoch sein kann.

Lösung:

In den Weiterbildungsgang zum Facharzt für Arbeitsmedizin müssen technische, organisatorische und (arbeits)psychologische Inhalte mit eingearbeitet werden. Dies kann im Rahmen einer Neugliederung der Inhalte der Grundlagenlehrgänge geschehen, kann aber auch durch Einbeziehung von z. b. entsprechend qualifizierten Ingenieuren und Arbeitspsychologen in die Weiterbildung realisiert werden.

Die Weiterbildungsordnung muß deutlich machen, daß ein ausgebildeter und geprüfter Facharzt für Arbeitsmedizin in der Lage ist, Einwirkungen jeder Art kompetent zu bewerten, ggf. unter Hinzuziehung externer Subspezialisten. Sonderlehrgänge, die bisher zur Erlangung einzelner Ermächtigungen erforderlich waren (z. b. G 20) sind in die Weiterbildungsgänge zu integrieren, z. B. in die Grundlagenlehrgänge.

Der Mindestzeitraum für die Weiterbildung zum Arbeitsmediziner ist auf 5 Jahre zu erweitern, wobei dann 3 Jahre in der praktischen Betriebsmedizin zu absolvieren wären.

Der autodidaktische Weg zur Zusatzbezeichnung „Betriebsmedizin“ hat keine Berechtigung mehr und muß entfallen.

Die im Rahmen einer Tätigkeit bei einem weiterbildungsermächtigten Arzt erworbene Zusatzbezeichnung stellt eine solide Basisqualifikation dar. Für eine umfassende Bearbeitung aller Fragestellungen auch in kleinsten Betrieben wird jedoch eine regelmäßige Kommunikation mit einer von einem Facharzt geleiteten betriebsärztlichen Einrichtung erforderlich sein. Hierzu sind entsprechende verbindliche Modelle zu schaffen, wie z. B. im Sinne eines arbeitsmedizinischen Konsiliums oder eines jour fixe.

II. Strukturqualität betriebsärztlicher Einrichtungen

Anforderungen:

Qualität betriebsärztlichen Handelns wird unabhängig von der fachlichen Qualifikation des Arztes und unabhängig von der Organisationsstruktur des Betriebes ganz wesentlich beeinflußt durch die Organisationsstruktur der betrieblichen Einrichtung selbst.

Die materiellen und personellen Voraussetzungen dieser Einrichtung haben einen bestimmenden Einfluß auf das Handelns des einzelnen Arztes ebenso wie die ideellen Vorgaben des leitenden Arztes und die Flexibilität der Organisation . Sinngemäß gilt dies auch für den allein oder auch den nebenberuflich tätigen Betriebsarztes, die diese Voraussetzungen natürlich selbst schaffen müssen.

Mängel:

Unzureichende Literaturausstattung, unzureichendes Fortbildungsangebot, zu wenig ärztliches und nichtärztliches Personal machen selbst ernsthafteste Bemühungen um hochwertige betriebsärztliche Betreuung zunichte.

Übergroßer Einfluß von Verwaltungsdienststellen betriebsärztlicher Einrichtungen oder ihrer Trägerorganisation wirkt lähmend auf die Aktivität und Kreativität der Ärzte selbst, ebenso wie unnötig ausgedehnter Verwaltungsaufwand im Zusammenhang mit der ärztlichen Tätigkeit.

Besonders bedenklich sind Organisationsformen, bei denen der einzelne Arzt planmäßig mehr Einsatzstunden zu leisten hat als Arbeitsstunden zur Verfügung stehen oder in denen Fahrtzeiten zum Betrieb bzw. fachfremde Leistungen (z. B. betriebseigener Notarztwagen) als betriebsärztliche Tätigkeit ausgewiesen werden. Fehlen von im Betrieb notwendigen Ermächtigungen oder notwendigem Untersuchungsgerät sind untragbare Einschränkungen des betriebsärztlichen Leistungsspektrums.

Lösung:

Vom Werksärzteverband sollte ein Mindeststandard für die Organisation betriebsärztlicher Einrichtungen erstellt und laufend aktualisiert werden. Da zwischen den Anforderungen an den einzelnen Betriebsarzt keine von der Größe des Unternehmens abhängige Unterschiede bestehen muß dieser ohne Modifikation gleichermaßen geeignet sein für Einrichtungen in der Großindustrie, überbetriebliche Zentren und Freiberufler wie auch für den nebenberuflich betriebsärztlich tätigen Kassenarzt und muß z. B. folgende Punkte regeln:

Ø Maximale Einsatzstunden/Arzt unter Bezug auf Jahresarbeitszeit und Fahrtzeiten

Ø Ausstattung mit Assistenzpersonal

Ø Berücksichtigung von Nebenaufgaben (Ambulanz, NAW, Leitungsfunktionen oder auch Umfang der Kassenpraxis) bei der Ermittlung der möglichen Einsatzzeit und des notwendigen Hilfspersonals

Ø Inhalt einer arbeitsmedizinischen Grundbibliothek

Dieser Standard ist so zu gestalten, daß er in seiner Gesamtheit die für einwandfreie Arbeit notwendige Struktur einer betriebsärztlichen Einrichtung beschreibt. Er muß in Zusammenarbeit mit Aufsichtsbehörden verbindlich gemacht und von diesen überwacht werden.

So ausgestattete betriebsärztliche Einrichtungen sind generell in der Lage, Betriebe jeder Art in hoher Qualität arbeitsmedizinisch zu betreuen - persönliche Qualifikation der dort tätigen Ärzte vorausgesetzt. Die Trägerschaft der Einrichtung ist hierauf ohne Einfluß, die Auswahl ist somit dem jeweiligen Unternehmer selbst zu überlassen. Staatliche oder sonstige Vorgaben hinsichtlich einer bestimmten Organisationsform der betriebsärztlichen Betreuung sind somit nicht qualitativ sondern ordnungspolitisch begründet. Sie dienen somit nicht der optimalen Versorgung der Arbeitnehmer, sondern vielmehr Bestandsinteressen hierdurch begünstigter Organisationen.

Die Unabhängigkeit der Betriebsärzte von fachfremden Vorgaben auch innerhalb ihrer eigenen Einrichtung muß sichergestellt werden. Der Verwaltungsaufwand des Arztes ist drastisch zu beschränken. Wo dies nicht möglich ist, sind entsprechende Abschläge bei der einzuplanen.

III. Strukturqualität im Betrieb

Anforderungen:

Die Basis für erfolgreiche betriebsärztliche Tätigkeit muß im Betrieb selbst gelegt werden durch unternehmerische Führungsentscheidungen. Auswahl des Arztes oder des Betriebsarztzentrums nach Qualifikationsgesichtspunkten, Definition eines Arbeitsschutzprogrammes, Festlegung von Verantwortlichkeiten sind hier Stichworte.

Mängel:

Nur zu oft wird Arbeitsmedizin nachgeordneten Führungsebenen überlassen, nicht selten sogar ausschl. der operationalen Führungsebene der Meister. Dies gilt in einigen Fällen sogar für Unternehmen der Großindustrie. Strategische Entscheidungen werden somit unmöglich, der Erfolg fraglich. Auch bestqualifizierte und engagierte Ärzte sind ohne zielorientierte innerbetriebliche Organisationsstruktur nicht in der Lage, brauchbare Ergebnisse zu liefern.

Lösung:

Der Verband Deutscher Betriebs- und Werksärzte muß in einer langfristigen Aktion bei Verantwortungsträgern in Unternehmen jeder Größenordnung den Gedanken publik machen, daß Gesundheitsschutz eines der Unternehmensziele ist. Dies kann sowohl durch eine intensivierte Pressearbeit geschehen als auch durch gezielte Vorträge auf Veranstaltungen der Unternehmerverbände und Industrie- und Handelskammern. Eine Präsenz des Verbandes auf wichtigen Messen wäre in diesem Sinne ebenfalls hilfreich.

Kontrollen und Auflagen der Aufsichtsbehörden sind kein taugliches Mittel, die Akzeptanz von Gesundheitsschutzmaßnahmen zu verbessern.

IV. Fortbildung des Arztes

Anforderungen:

Der Erkenntniszuwachs in der Arbeitsmedizin ist von einer Geschwindigkeit, die nur von wenigen anderen Fachdisziplinen übertroffen wird. Über die zahlreichen fachlichen Neuerungen hinaus hat sich der Betriebsarzt aber auch mit der noch rascheren technischen und organisatorischen Innovation im Arbeitsumfeld der von ihm betreuten Arbeitnehmer auseinanderzusetzen.

Eine regelmäßige spezifische betriebsärztliche Fortbildung, die nicht nur auf medizinischen Inhalten basiert, ist daher unerläßliche Voraussetzung für eine anhaltende arbeitsmedizinische Fachkunde.

Mängel:

Nur ein kleiner Teil der Ärzte mit arbeitsmedizinische Fachkunde besucht die Fachtagungen des Werksärzteverbandes und der DGAM. Ähnlich gering ist die Teilnehmerzahl bei den regionalen Fortbildungsveranstaltungen, z. B. der Berufsgenossenschaften. Dies verrät ein wenig ausgeprägtes Interesse arbeitsmedizinisch tätiger Ärzte an einschlägiger Fortbildung. Der Besuch lediglich allgemeiner ärztlicher Fortbildungsveranstaltungen ist für arbeitsmedizinische Fragestellungen nicht ausreichend.

Schwierigkeiten entstehen aber auch durch das stark begrenzte Angebot an regionaler arbeitsmedizinischer Fortbildung. Mit Ausnahme der Regionen um Standorte von arbeitsmedizinischen Lehrstühlen und Akademien bzw. gewerbeärztlichen Dienststellen vergehen z. T. zwei oder mehr Jahre zwischen arbeitsmedizinischen Fortbildungsveranstaltungen. Derartige Frequenzen lassen nicht zu, daß sich der nebenberuflich betriebsärztlich tätige Kassenarzt neben seiner Praxis adäquat fortbildet.

Lösung:

Regionale Fortbildungsdefizite lassen sich zum Teil leicht ausgleichen, wenn engagierte Arbeitsmediziner in ihrem Umkreis „betriebsärztliche Stammtische“ einrichten, an denen sich regelmäßig Gelegenheit zum ungezwungenen Erfahrungsaustausch ergibt. Auch können hier Teilnehmer an überregionalen Kongressen über wichtige Neuerungen berichten. Der Werksärzteverband müßte dabei organisatorisch und finanziell unterstützend mitwirken.

Die Präsenz arbeitsmedizinischer Themen in der Fortbildungsprogrammen der Bezirksstellen der Ärztekammern kann entsprechend ihrer tatsächlichen Bedeutung erheblich gesteigert werden. Einen Mangel an qualifizierten Referenten dürfte es heute nicht mehr geben.

V. Betriebsarzt und Sicherheitsfachkraft

Anforderungen:

Wesentliche Teile betriebsärztlichen Handelns bauen auf Ergebnissen der Arbeit der Sicherheitsfachkäfte auf oder sind nur mit diesen zusammen möglich. Mängel in der Arbeit der Sicherheitsfachkraft machen sich daher auch unmittelbar in der Tätigkeit des Betriebsarztes bemerkbar.

Im Sinne eines optimalen Arbeitsschutzes muß daher das Augenmerk der Betriebsärzte auch der Qualifizierung ihrer Partner, der Sicherheitsfachkräfte, gelten. Nur eine Sicherheitsfachkraft, die das gesamte Spektrum ihrer aufgaben beherrscht und hierzu auch materiell entsprechend ausgestattet ist, kann dazu beitragen, den betrieblichen Gesundheitsschutz erfolgreich zu gestalten.

Mängel:

Mängel in der Sicherheitsarbeit sind besonders in der mittelständischen Industrie zahlreich. Sie haben ihre Wurzeln aber nicht in der unzureichenden Ausbildung der Sicherheitsfachkräfte oder deren mangelndem Engagement, sondern vielmehr in deren sehr oft anzutreffender betrieblicher Doppelfunktion. Diese führt nach kurzer Zeit zu einer mehr oder weniger deutlichen Vernachlässigung der Sicherheitsaufgaben aufgrund eines großen Termindrucks im jeweiligen betrieblichen Hauptaufgabengebiet. Auch die oft minimale apparative und personelle Ausstattung der Sicherheitsfachkräfte wirkt hier stark limitierend.

Lösung:

Im eigenen Interesse sollte der einzelne Betriebsarzt keine Gelegenheit ungenutzt lassen, die Position der Sicherheitsfachkraft im Betrieb zu stärken. Dies gilt besonders für mittelständische Betriebe. Der Arbeitsschutzausschuß ist hierfür ein sehr geeignetes Forum. Besonders ist regelmäßig darauf zu dringen, daß nebenberuflich tätige Sicherheitsfachkräfte sich tatsächlich regelmäßig in dem erforderlichen Umfang der Sicherheitsarbeit widmen.

Der Werksärzteverband sollte hier unterstützend wirken durch eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit und durch Intensivierung der Zusammenarbeit mit dem VDSI und Unternehmerverbänden. Auch hier kann eine verstärkte Pressearbeit langfristig hilfreich sein.

VI. Interdisziplinäre Zusammenarbeit

Anforderungen:

Mit Ausnahme der reinen Untersuchungstätigkeit und der Sprechstunde ist betriebsärztliches Handeln vom Ansatz her interdisziplinär. Auch bei optimaler Aus- und Fortbildung erreichen betriebsärztliche Kenntnisse auf einigen Spezialgebieten nicht die notwendige Tiefe. Neben der ohnehin geforderten engen Kooperation mit den Sicherheitsfachkräften ist die Zusammenarbeit mit anderen Ingenieuren (Anlagenplanung, Arbeitsplatzgestaltung), Psychologen (Arbeitsorganisation, Motivation), Toxikologen (Gefahrstoffe) und Architekten (Bauphysik) daher Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche betriebsärztliche Tätigkeit.

Mängel:

Die Grundlagen hierfür sind im ASiG teilweise festgeschrieben, die Wirklichkeit der Praxis ist davon allerdings weit entfernt. Neben der traditionell wenig ausgeprägten Neigung von Ärzten zu interdisziplinärer Kooperation spielt hier eine große Rolle die Gesamtheit berufsgenossenschaftlicher und staatlicher Regelwerke. Insbesondere Unfallverhütungsvorschriften trennen scharf zwischen Arbeitssicherheit und Arbeitsmedizin, wobei der Arbeitsmedizin nahezu ausschl. die Aufgabe der Untersuchung der Mitarbeiter zugewiesen wird - ein psychologisch nicht zu unterschätzendes Hemmnis im Alltag der Zusammenarbeit. Ähnlich ist die Situation bei staatlichen Vorschriften. Lediglich die GefStoffV geht gleichermaßen auf die Aufgaben beider Fachgebiete ein.

Lösung:

Betriebsärzte müssen von sich aus auf die Einschaltung weiterer Fachleute dringen, wenn sich Fragestellungen abzeichnen, die von Ihnen selbst nur oberflächlich bearbeitet werden können. Analog zur Überweisungstätigkeit des niedergelassenen Arztes ist dieses Erkennen eigener Kompetenzgrenzen ein essentieller Bestandteil ärztlicher Handlungsqualität. Da das Hinzuziehen weiterer Experten jedoch nicht in der Kompetenz des Betriebsarztes selbst liegt, hat er die betrieblichen Entscheidungsträger dahingehend zu beraten.

Der Werksärzteverband kann hier unterstützend wirken durch Dateien von kompetenten Fachleuten der Industriehygiene, Ergonomie, Arbeits- und Organisationspsychologie und Toxikologie, die auch mittelständischen Betrieben und deren Betriebsärzten bei Bedarf zur Verfügung stehen. Auf die Nutzung derartiger fachlicher Ressourcen sollte regelmäßig hingewiesen werden.

VII. Bemessungsgrundlage betriebsärztlicher Tätigkeit

Anforderungen:

Da über den erforderlichen Umfang betriebsärztlicher Tätigkeit die Meinungen zwischen Unternehmern, Arbeitnehmervertretern und Ärzten zum Teil erheblich auseinandergehen ist es notwendig, einen verbindlichen Maßstab für die ärztliche Tätigkeit im Betrieb zu definieren.

Ein geeignetes System muß sicherstellen, daß in einer betriebsbezogenen Modifikation der gesamte Aufgabenkatalog des § 3 ASiG bewältigt werden kann. Darüber hinaus muß es gewährleisten, daß neu auftauchende Fragestellungen bearbeitet werden können und daß die Finanzierung der betriebsärztlichen Einrichtung gesichert ist. Es darf weder dem Unternehmen noch der betriebsärztlichen Einrichtung eine Möglichkeit eröffnen, einzelne betriebsärztliche Tätigkeitsfelder lediglich zwecks Kosteneinsparung einzuschränken oder zu blockieren bzw. lediglich zwecks Verbesserung der Ertragslage auszuweiten.

Mängel:

Einsatzzeiten als Bemessungsgrundlage für die Gesamtheit betriebsärztlicher Tätigkeit stoßen in manchen Fällen an die Grenzen ihrer Aussagefähigkeit, obwohl sie sich insgesamt außerordentlich gut bewährt haben. Dies gilt besonders für den noch nicht ausreichend erprobten Bereich der Betreuung von Kleinstbetrieben. Aber auch die Tatsache, daß identische Tätigkeiten von BG zu BG unterschiedlich bewertet werden, macht Schwierigkeiten ebenso wie die in manchen UVVen vorgenommene Koppelung der Mindesteinsatzzeit an die Unfallgefährdung, ein in der Arbeitsmedizin untergeordnetes Kriterium.

Lösung:

Da Arbeitsmedizin im Betrieb nicht nur qualitativ hochwertig geleistet, sondern auch bezahlt werden muß, ist ein quantitativer Maßstab unverzichtbar. Qualitative Vorgaben im Sinne eines Aufgabenkatalogs sind nur realisierbar, wenn ein verbindlicher Berechnungsschlüssel für die Vergütung existiert, etwa im Sinne einer Gebührenordnung. Letztere haben jedoch den Nachteil, daß Unternehmen dann bestrebt sein werden „teure“ Leistungen für überflüssig zu erklären, wogegen Betriebsärzte gerade auf diese Leistungen Wert legen werden.

Da sich das System der Einsatzzeiten im wesentlichen bewährt hat ist es ausreichend, Korrekturen dort anzubringen, wo Probleme entstanden sind:

1) Die Berufsgenossenschaften müssen von ihrer Befugnis, die Mindesteinsatzzeiten im Einzelfall zu erhöhen, Gebrauch machen. Dies setzt Kenntnis der tatsächlichen Situation der Arbeitsmedizin in den Unternehmen voraus.

2) Durch tatsächliche Kontrolle der betriebsärztlichen Tätigkeit aller Einrichtungen ist sicherzustellen, daß einer ausreichend beauftragten und bezahlten Einsatzzeit nicht eine völlig inadäquate ärztliche Leistung gegenübersteht.

3) Für die Betreuung von „Kleinstbetrieben“ ist die Flexibilisierung der Einsatzzeit, wie sie bereits von mehreren Betriebsarztzentren praktiziert wird, auch offiziell zu sanktionieren. Hierdurch soll ermöglicht werden, daß trotz jährlich gleichbleibender berechneter Einsatzzeit von Jahr zu Jahr unterschiedliche zeitliche Umfänge der betriebsärztlichen Tätigkeit je nach Anfall der Aufgaben möglich sind.

Unter diesen Voraussetzungen ist das System der Einsatzzeiten auch in Zukunft ein sehr brauchbares Instrument zur Organisation und Steuerung betriebsärztlicher Tätigkeit und kann beibehalten werden.

VIII. Forschung

Anforderungen:

Arbeitsmedizinische Forschung an den wenigen Hochschulinstituten, berufsgenossenschaftlichen und staatlichen Einrichtungen hat wichtige Erkenntnisse vor allem bezüglich des Berufskrankheitengeschehens und der Gefahrstoffwirkungen erbracht. Eine Intensivierung arbeitsmedizinischer Forschung ist angesichts der ungeheuren Dynamik des technologischen Wandels unabdingbar.

Dies kann allerdings nicht nur an den genannten Einrichtungen geschehen, sondern muß auch die im betrieblichen Alltag sich stellenden Fragen aufgreifen.

Mängel:

Weite Felder betriebsärztlichen Tuns sind bislang nicht Gegenstand wissenschaftlichen Interesses gewesen. Beispielhaft genannt seien hier Mängel in der Ergonomie von Büroarbeitsplätzen, Akzeptanz von Körperschutzmitteln und Gründe für ihre Nichtakzeptanz, Hautschutz bei häufig wechselnden Tätigkeitsinhalten, Hebebelastungen in der Lebensmittel- und Metallindustrie u. ä.

Um hier Fortschritte zu erzielen ist eine praxisnahe Forschung der einzelnen betriebsärztlichen Einrichtungen unerläßlich. Bislang ist dies aufgrund der sehr knappen Mindesteinsatzzeiten, die von vielen Unternehmen sogar noch unterschritten werden, nicht möglich gewesen.

Lösung:

Zwei Wege können hier zum Ziel führen:

Zum einen können die Mindesteinsatzzeiten generell um einen gewissen Prozentsatz angehoben werden, so daß jedem Betriebsarzt die zeitliche Möglichkeit zu wissenschaftlicher Arbeit gegeben ist. Da aber voraussichtlich nur ein geringer Teil der Betriebsärzte hieran interessiert sein wird, handelt es sich um eine wenig realistische Möglichkeit

Zum anderen können Berufsgenossenschaften, Kranken- und Rentenversicherungen oder Bundesanstalt für Arbeitsmedizin gezielt Projekte für die Feldforschung ausschreiben und hierfür die Mittel bereitstellen. Hierbei wäre sicherzustellen, daß Probleme von mittelständischen Betrieben in einem Umfang berücksichtigt werden, der ihren Anteil an der Gesamtwirtschaft entspricht. Die DGAM könnte hier Koordinationsfunktionen übernehmen und Mentoren stellen.

IX. Gewerbeaufsicht und Berufsgenossenschaften

Anforderungen:

Da in einer nicht zu kleinen Zahl von Unternehmen (auch großen) die Akzeptanz betriebsärztlicher Tätigkeit nicht sehr hoch ist besteht die faktische Notwendigkeit, die Durchführung des Arbeitsschutzes durch Aufsichtsbehörden überwachen zu lassen. Anzustreben wäre eine systematische, regelmäßige Kontrolle aller Unternehmen hinsichtlich Qualifikation des Arztes, Strukturqualität der betriebsärztlichen Versorgung und innerbetrieblicher Arbeitsschutzorganisation.

Die für eine qualifizierte Überwachung der Arbeitsmedizin im Betrieb notwendige hohe Fachkompetenz bei den Aufsichtsbehörden ist allerdings durch dort tätige Ärzte wesentlich besser zu gewährleisten als durch Ingenieure. Sie muß - sobald geschaffen- außerdem zu einer intensiven Beratungstätigkeit insbesondere in mittelständischen Unternehmen genutzt werden.

Mängel:

Aufsichtsbehörden haben mit ihrer Kontrollbefugnis bisher nur selten zur Qualitätssteigerung in der Arbeitsmedizin beitragen können. Dies hat viele Ursachen, wie z. B. die zu knappe personelle Ausstattung der Gewerbeaufsichtsämter und ganz besonders der gewerbeähnlichen Dienststellen. Eine wesentliche Rolle spielt auch, daß Aufsichtsbeamte in der Regel Ingenieure sind, deren medizinische Kompetenz notwendigerweise begrenzt ist.

Aber auch die faktische Unmöglichkeit für den TAB, im Betrieb die Strukturqualität der betriebsärztlichen Betreuung zu beurteilen (Ausnahme : Fachkunde) spielt hier eine Rolle ebenso wie die Probleme, die entstehen, wenn der TAD die Arbeit BG-eigener Ärzte bewerten soll.

Die Kontrollbefugnis der Gewerbeärzte bezieht sich lediglich auf den jeweiligen zu prüfenden Betrieb nicht aber auf die betriebsärztliche Einrichtung, die diesen Betrieb betreut (Ausnahme: Großunternehmen). Die Qualität betriebsärztlichen Handelns wird aber ganz wesentlich durch die Organisation und Ausstattung des betriebsärztlichen Dienstes selbst bestimmt.

Lösung:

Die zweifellos notwendige staatliche Überwachung betriebsärztlicher Tätigkeit muß primär Sache der gewerbeärztlichen Dienststellen sein. Die regionalen Gewerbeaufsichtsämter können hier nur unterstützende Funktion erlangen im Sinne einer Amtshilfe. Gleichzeitig muß aber der funktionelle Schwerpunkt gewerbeärztlicher Tätigkeit auf die Beratung der Betriebsärzte verlagert werden. Die personelle Ausstattung der gewerbeärztlichen Dienststellen ist demzufolge erheblich zu verbessern.

Der bislang ausschließlich technisch vorgebildete technische Aufsichtsdienst der Berufsgenossenschaften muß durch Arbeitsmedizinier ergänzt werden, die bei entsprechenden Fragestellungen oder routinemäßig an Betriebsbegehungen teilnehmen. Einzelne Berufsgenossenschaften haben hier schon erhebliche Vorarbeit geleistet.

Die Überprüfung betriebsärztlicher Tätigkeit darf sich nicht mehr ausschl. auf den Betrieb selbst, also auf den Normadressaten „Unternehmer“ beschränken. Wirkungsvolle Kontrolle der Qualität betriebsärztlichen Handelns setzt die fachkundige Überprüfung auch der betriebsärztlichen Einrichtung selbst (Betriebsarztzentrum, arbeitsmedizinische Gemeinschaftspraxis, Arztpraxis) voraus. Den Aufsichtsbehörden sind entsprechende Kompetenzen zu verschaffen.

Dr. Mathias Dietrich

DE, Oldenburg

Arbeitsmedizinischer Dienst Oldenburg

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