Film-Analyse à la Kybernetischer Psychoanalyse
Film-Analyse à la Kybernetischer Psychoanalyse

Film-Analyse à la Kybernetischer Psychoanalyse

Beitrag, Deutsch, 7 Seiten, Daedalus Verlag

Herausgeber / Co-Autor: Volker Halstenberg

Erscheinungsdatum: 2003

Quelle: Volker Halstenberg


Aufrufe gesamt: 2026, letzte 30 Tage: 1

Kontakt

Verlag

Daedalus Verlag

Telefon: +49-251-231355

Telefax: +49-251-232631

Referenzeintrag

Weitere Informationen über:

Daedalus Verlag:

Kontakt

Volker Halstenberg
Film-Analyse à la Kybernetischer Psychoanalyse

„Der Film ist ein Instrument zur Beeinflussung von Menschen:
Viel wichtiger als das, was auf die Leinwand ihres Kinos
projiziert wird, ist das, was auf den Bildschirm
ihrer Seelen projiziert wird.” John Russell Taylor

Auch der Film-Zuschauer ist Beobachter von Beobachtern und damit Beobachter zweiter Ordnung. Beobachtet er innerhalb des Films jemanden beim Beobachten – wie in Hitchcocks »Rear Window« oder in Shakespeares »Midsummer Night's Dream«, wo seinerseits ein Theaterstück namens »Pyramus and Thisbe« aufgeführt wird, oder beobachtet er beim Romanlesen jemanden, der liest, beispielsweise Don Quijote in seiner Bibliothek – wird er zum Beobachter dritter Ordnung, der Beobachter dabei beobachtet, wie sie Beobachter beobachten. Wobei man sich stets darüber klar sein muss, dass bei einem Beobachter, während er beobachtet, die Selbstbeobachtung größtenteils ausgeschaltet ist; denn die Beobachtung kann sich während der Beobachtung nicht selbst beobachten. Wohl aber kann und wird sich während der bewussten Beobachtung eine unbewusste Eigendynamik entwickeln.
Offensichtlich spielt das Unbewusste nicht nur in Malerei, Prosa und Dichtkunst, sondern auch im Film eine Hauptrolle. Möglicherweise gar mehrere.

Während die Kybernetische Psychoanalyse intendiert, primärprozesshaftes Erleben in sekundärprozesshaftes Erleben-Verstehen zu überführen, läuft dies beim Filmschaffen genau anders herum. Laut Metz geht der Regisseur bei der Inszenierung eines Films vom Sekundärprozesshaften, Begrifflich-abstrakten, Rational-planerischen aus, wenngleich unbewusste Fantasien und verdrängte Selbstanteile thematisch, dramaturgisch und stilästhetisch in jeden Film einfließen werden. Schließlich arbeiten Bewusstes und Unbewusstes Hand in Hand. Bei Regisseuren und Drehbuchautoren, bei Darstellern und Zuschauern.
Der Kinofilm als eine Art zeitversiegeltes Erleben löst in der höhligen Weltabgeschiedenheit des Kinoraums beim Zuschauer vornehmlich regressive Impulse aus, infantilisiert sein Selbsterleben. Rationales Kontroll-ICH, unser Kybernetes, zieht sich von der Szene zurück und überlässt dem Lust-ICH das Feld, das sich genüsslich der visuellen Einverleibung flimmernder Erlebnisse hingibt. Inkorporation ad oculos. Das Auge wird zur erogenen Zone.
Der Übersetzung von »mental pictures« in Sprache – bei der Traumdeutung Usus – steht bei der Filmrezeption die Omnipotenz fließender Bilder gegenüber, die ihre Wirk-Kraft der Tatsache verdanken, dass sie keinen Transformationsprozess durchlaufen müssen, sondern direkt erlebt werden; nicht erst über den Umweg der Reflexion.

Bilder durchdringen den menschlichen Organismus – wie Musik – ungefiltert, subkutan. Darum können sie durch musikalische Untermalung eminent verstärkt oder geschwächt werden. Sergej Eisenstein war einer der ersten, der das begriffen und perfekt umgesetzt hat. Sein Klassiker »Iwan der Schreckliche« lebt wesentlich durch musikalisch-rhythmische Strukturen, die die Bildgewalt noch potenzieren.
Ähnlich bei Ingmar Bergmanns »Schreie und Flüstern«, wo die kurze emotionale Nähe zweier Schwestern durch eine Violinensuite von Johann Sebastian Bach um ein Vielfaches gesteigert wird.
Wie viel ärmer in seiner affektlogischen Erlebnisintensität wäre Francis Ford Coppolas »Apocalypse Now« ohne das eschatologische »The End« von den Doors! Wie viel weniger pervers wäre die Szene aus gleichem Film, wenn der Hubschrauberangriff amerikanischer Soldaten auf ein vietnamesisches Dorf nicht mit Richard Wagners »Walkürenritt« untermalt wäre! Welche Spannungs-Einbuße, welchen Verlust an koinästhetischem Grauen müsste der Zuschauer hinnehmen, ohne das schrille Staccato beim Dusch-Mord in Hitchcocks »Psycho«, und ohne die Mundharmonika-Melodie in Sergio Leones »Spiel mir das Lied vom Tod«! (Siehe dazu www.filmmusik-info.de/film_analyse.html)

Allgemein besteht der funktionale Sinn musikalischer Untermalung darin, das Visuelle nach einer bestimmten Richtung hin zu deformieren: es besser oder böser, schöner oder hässlicher, heißblütiger oder kaltherziger, heroischer oder barbarischer, spitzfindiger oder stumpfsinniger erscheinen zu lassen.
Ob mit oder ohne Musik: Filmrezeption erfordert für gewöhnlich keinerlei Fantasie, wie die Übersetzung von Sprache in Bilder (beim Lesen eines Romans oder eines Gedichts); der Zuschauer konsumiert weitgehend passiv, fließt mit im bunten Bilderfluß, identifikativ gebannt, hypnotisiert und fasziniert, vom Guten wie vom Bösen, abwehr-arm und ungeschützt, treibt er traumatisiert und träumerisch. Bezeichnenderweise nennt man Hollywood eine Traumfabrik; einen Circus Maximus träumerischer und traumatischer Emotionen, der den Weltmarkt der artigen und abartigen Gefühle beliefert, darauf basiert die Weltherrschaft der zig-Milliarden-Dollar-Industrie.
Autoren, die sich mit Film und Traum beschäftigen, betonen unisono die Präsenz regressiver Prozesse: von der Schau- und Exhibitionslust über primitive Identifikationen bis hin zum infantilen Narzissmus. Film lullt ein in eine parareale Schein-Wirklichkeit, die den Betrachter noch nach Filmende gefangenhält. Tut er‘s nicht, wird sein Regisseur womöglich alles Mögliche im Blick gehabt haben, bis auf das »Auge« des Betrachters, welches ja seit empedoklischen Zeiten eine Strukturverbindung zur Thymopsyche hat, die große Filme zum Schwingen bringen, weit über das fantareale Zwei-Stunden-Erlebnis hinaus.

„Großes Kino ist es, wenn der Zuschauer nach einem großen Film über den schmutzigen Teppichboden am Popcornstand vorbeischleicht und auf einmal geht wie der Gladiator oder spricht wie Erin Brockovich. Großes Kino ist immer wie ein Tagtraum, so, als habe man sich für ein paar Minuten hingelegt, und das Leben beginnt noch mal von vorn. Großes Kino ist eine ziemlich romantische Angelegenheit.“ (HÜETLIN 2001)

Insbesondere mit dem stilistischen Mittel der Tiefenschärfe, die ganze Szenen in einer einzigen Einstellung zeigt sowie durch Nahaufnahmen und Zeitlupeneffekte wird der Zuschauer in eine Beziehung zum Filmbild gesetzt, die enger ist als seine Beziehung zur Realität.
Die psychoanalytische Filmtheorie führt die große Faszination vieler Kinofilme in erster Linie auf deren gelungene Inszenierung und Auflösung unbewusster Zentralkonflikte zurück. In Michael Curtiz Welterfolg »Casablanca« z. B., sieht der Hauptdarsteller Rick (Humphrey Bogart) in der verheirateten Elsa Lund (Ingrid Bergmann) unbewusst sowohl die versorgende Mutter der präödipalen als auch die libidinisierte Partnerin der ödipalen Phase. Sie ist in jedem Fall ein Unterschied, der affektlogische Unterschiede macht, und Rick verhält sich zeitweilig wie der wütende kleine Ödipus.
Als ihn Elsa – die fälschlicherweise annahm, ihr Ehemann sei im Konzentrationslager umgekommen, dann aber erfährt, dass er lebt – beim Einzug der Nazis in Paris am Bahnhof versetzt, zieht sich Rick enttäuscht nach Casablanca zurück; als regressive Aktualisierung infantilen Selbsterlebens nach Art eines trotzigen »Und ab dafür« zu verstehen. Aber der Mann macht schmerzensreich-heilsame Fortschritte und hat später, bei einem zufälligen Wiedertreffen mit Elsa (und ihrem Mann Victor Laszlo), symbolisch eine ÜBER-ICH-Reife erreicht, die ihm generös gestattet, zugunsten des Vaters auf die Mutter zu verzichten. Er hilft Victor und Elsa das Land zu verlassen.

Auch viele Hitchcock-Filme, über die Jean-Luc Godard in der Libération-Ausgabe vom 2. Mai 1980 gesagt hat, man könne sie bereits an der ersten Einstellung erkennen, bieten reichhaltigen Nährboden für kybernetisch-psychoanalytische Beobachtungen:
In »Rear Window« ist Hauptdarsteller Jeff (James Stewart) wegen eines Gipskorsetts an den Rollstuhl gefesselt und zur unfreiwilligen sexuellen Abstinenz verurteilt. Er beginnt, mit einem riesigen Teleobjektiv (Phallussymbol) von seinem Fenster aus Paare in ihren Wohnungen zu beobachten, womit schon das unbewusste Zentralthema des Films erfasst ist: das Paar in der Urszene.
Darunter versteht man die gesamte unbewusste Affektlogik und die persönliche Mythologie eines Kindes bezüglich der menschlichen Sexualität im Allgemeinen und der seiner Eltern im Besonderen.
Rear Window thematisiert im tiefenpsychologischen Grunde das Beobachtungsverhalten des Kindes im Mann hinsichtlich der Sexualität der Eltern. Hauptdarsteller Jeff kann eine ödipale Neurose diagnostiziert werden, die u. a. in seinem voyeuristischen Verhalten zum Ausdruck kommt; obschon wir sofort anmerken wollen, dass eine Erotisierung oder Sexualisierung der Wahrnehmung (Schaulust) häufig bei Borderline-Gestörten vorkommt.
Der Mord, den Jeff durchs Teleobjektiv beobachtet, entspricht in seinem unbewussten Erleben der mörderischen Urszene, die aus der Projektion sadistischer Impulse gegen den Vater resultiert. In Rear Window ist der beobachtete Mörder das Alter Ego des beobachtenden Beobachters, sprich des Fotografen, der seine ihn zur Ehe drängende Freundin Lisa (Grace Kelly) unbewusst ebenso gern loswerden möchte, wie der gegenüber wohnende Bösewicht seine Frau.
Auch die Duschszene in »Psycho« kann ödipal interpretiert werden: Marion (Janet Leigh) lässt sich lustvoll vom Wasserstrahl (Phallussymbol) verwöhnen, als ein ausgeschlossener Dritter, der psychotische Mörder Norman Bates (Anthony Perkins), die Frau tötet. Norman ist aufgrund einer schizophrenen Mutter-Beziehung gezwungen, jedes Objekt seiner Begierde zu zerstören.
Mit »Psycho«, seinem vielleicht bekanntesten Film, ist Hitchcock wirkungsästhetisch die vollkommene Manipulation des Publikums gelungen. Komplizenhafte Kameraführung und dialektische Wechselbäder zwischen Beobachten und Beobachtetwerden saugen den Zuschauer gnadenlos in die Filmhandlung hinein, machen ihn zum Mittäter und Mitopfer, ekeln und fesseln ihn, ziehen ihn an und stoßen ihn ab, euphorisieren und traumatisieren ihn, machen ihn heiß und machen ihn kalt. Er wird des methodisch inszenierten Wahnsinns fette Beute. So soll‘s sein, würde Hitchcock sagen, der nicht nur über einen hochgradig makabren Humor verfügte, sondern auch tiefste Befriedigung daraus zog, andere in Angst und Schrecken zu versetzen. Zweifellos eine Art von Macht, die ICH- und ICH-IDEAL-strukturelle »Ohnmächte« kompensiert und die affektlogische Selbstorganisation stabilisiert.
Sein avantgardistisches Horror-Konzept, das gänzlich ohne stereotype Mumien-Monster-Mutations-Arsenale und Blutorgien auskommt, vielmehr ausschließlich auf die unberechenbaren Abgründe der menschlichen Psyche rekurriert, hat viele renommierte Regisseure inspiriert: Angefangen von Robert Aldrich (Whatever happened to Baby Jane?) und Stanley Kubrick (The Shining) über Brian de Palma (Dressed to Kill, Der Tod kommt zweimal) und John Carpenter (The Fog, Halloween) bis zu David Cronenberg (Scanners, The Fly) und George Sluizer (Spurlos Verschwunden).
Während in »Psycho« und »Frenzy« zwanghafte Mordgier eines Psychotikers dramatisiert wird und in »Die Vögel« dämonisches Unheil in eine heile Welt bricht, Brutalität und Bestialität ostentativ in Szene gesetzt sind, fasziniert Hitchcock‘s »Vertigo«, ähnlich »Rear Window« und »Marnie«, durch subtil-verdeckte Gewalttätigkeit. Wir wollen am Beispiel von Vertigo (Deutscher Titel: Aus dem Reich der Toten) die Klarifikations- und Deutungs-Kompetenz der Kybernetischen Psychoanalyse auf eine weitere Probe stellen. Zum Film-Inhalt:

Die Wohnung des frühzeitig pensionierten Ex-Polizisten John Ferguson (James Stewart) wirkt ungemütlich, kalt und vermittelt dem Zuschauer analogisch die innere Leere und Einsamkeit des Protagonisten. Kompensatorisch flüchtet der an Akrophobie (Höhenangst) – eine Art codierte Kastrationsangst infolge unbewusster Inzestwünsche – leidende Ferguson in Tagträumereien; übernimmt dann widerwillig für einen alten Schulfreund namens Gavin Elster (Tom Helmore) die Beobachtung von dessen angeblich selbstmordgefährdeter Ehefrau Madeleine (Kim Novak), die in Wahrheit Elsters Geliebte ist, und gerät dadurch unwissentlich in einen teuflischen Plan, der die Ermordung von Elsters wirklicher Ehefrau zum Ziel hat.
Indem er Madeleines Tagesablauf und ihr Gefühlsleben ausspioniert, werden unbewusste Schaulüste befriedigt, bei ihm und via Identifikation beim Zuschauer. Symbolträchtig ist eine Sequenz, in der Ferguson seinem Opfer durch eine dunkle Rumpelkammer hinterherschleicht. Am Ende befindet sich eine Tür, die in einen hellen Blumenladen führt. Durch den Türspalt beobachtet John, wie Madeleine einen Biedermeier-Strauß kauft. Seine begehrlichen Blicke ruhen auf den nahtbestrumpften Beinen der Frau. Ihre Pflaume – filmästhetisch durch das Blumengeschäft dargestellt – scheint ihn mehr zu interessieren als ihr Gesicht.
Nächste Verfolgungsszenen zeigen das Grab von Carlotta Valdés, einer fluchbeladenen Ahnfrau von Madeleine und ihr Bild in einem Museum. Der merkwürdige Kontrast zwischen dem schönen Blumenladen und dem Friedhof/Museum, Ausdruck der Antinomie von Eros und Thanatos, pointiert die latente Kernthematik des Films. Es ist die weibliche Andersartigkeit und Fremdheit, die Ferguson zugleich anzieht und ängstigt, weil sie mit seiner infantil-narzisstischen Fantasie von der identischen Genitalausstattung von Mann und Frau kollidiert. Dazu kommt ihr potenzielles Lustversprechen, ihre sexuelle Macht, die er fürchtet.
Der weitere Filmverlauf thematisiert Johns nekrophile Gegenvorstellung vom erotisch-anziehenden Weib: die Fantasie von der Toten, die keine sexuelle Macht hat und keine Befriedigung fordert, willenlos, verfügbar, manipulier- und kontrollierbar ist. Ästhetik und Dramatik des Films zeigen höchst anschaulich den unbewussten Konflikt des Hauptdarstellers: seine suchthafte Begierde nach Madeleine einerseits und sein ängstliches Zurückschrecken, verbunden mit dem Versuch, sie in die tote, ungefährliche Carlotta zu verwandeln, andererseits.
Vielsagend die Szene, in der Madeleine versucht, sich zu ertränken. John rettet sie, weiß aber zunächst nicht, ob sie tot oder lebendig ist. Für einen Augenblick scheint er am Ziel seines nekrophilen Wunsches nach Vereinigung mit der Toten, um anschließend wieder mit dem attraktiven Lustweib konfrontiert zu werden.
Madeleines Unterwäsche, die John zum Trocknen in seiner Wohnung aufgehängt hat, dazu die nackte Madeleine in seinem Bett, suggerieren dem Zuschauer Koitus-Vollzug. Gleichzeitig weisen die nicht eindeutig als Damenwäsche klassifizierbaren Kleidungsstücke auf teilweise geglücktes Ungeschehenmachen hin. Kein Akt? Keine Erschütterung des infantil-narzisstischen Glaubens an die Genitalidentität der Geschlechter? Und doch scheint die aufwendig abgewehrte Fantasie von der Verführerin nicht länger unterdrückbar zu sein. Es darf geschwankt werden!
Der Rest des Films ist rasch erzählt: Ferguson will sich unbewusst von der abhängig machenden Verführerin trennen – will sich affektlogisch differenzieren –, schafft es jedoch nicht; kann später aber ihren durch Todessturz verübten Selbstmord nicht verhindern. Wegen seiner Akrophobie. Er fühlt sich schuldig, als hätte er selbst sie ermordet, was er unbewusst auch getan hat (latente Mordfantasie). Seine libidinöse Objektbesetzung bzw. seine affektlogische Strukturkoppelung besteht weiter. Madeleine macht nach wie vor einen Unterschied in seinem Kopf und disponiert ihn, entsprechend unseren obigen Ausführungen, zur Melancholie. Sehnsuchtsvoll sucht Ferguson in den Straßen von San Francisco nach blonden Frauen mit aufgesteckten Haaren und dezentem, grauem Kostüm. Er findet Judy, die Madeleine zum Verwechseln ähnlich sieht und die sich später als selbige entpuppt. Nun reproduziert sich der unbewusste Prozess von neuem: John ist davon besessen, die lebenslustige, körperbewusste Judy in die tote Madeleine/Carlotta verwandeln zu müssen. Strukturdeterminierte Neuauflagen verdrängter Erlebnisse und perverse Wiederholungszwänge treiben ihn wieder zum Mord, ohne dass damit eine anhaltende Befriedigung verbunden wäre. Wie auch? Eine bestimmte unbewusste Sinnstruktur seines psychischen Systems zirkuliert vitiös und hält Ferguson in einem Teufelskreis gefangen.

Er ist im Grunde ein Serientäter: Er verfolgt und wird verfolgt von einem psychogenen, selbst-konstruierten Frauenbild, dessen er sich auf der anderen Seite zu entledigen sucht. Er mordet weibliche »Fabelwesen«, ohne zu wissen, dass er mordet. Er begeht faktisch-fiktive Morde. Faktisch sind sie insofern, als es zum Todesfall kommt, fiktiv daran ist, dass der Täter in seinem idiosynkratischen Selbsterleben keinen Mord begangen hat; was nicht bedeutet, dass er sich nicht schuldig fühlt. Schuld am Tod der Frauen fühlt er schon, allerdings keine Mord-Schuld.

In dem Moment, wo aus dem Getriebenen ein Erkennender wird, ein Selbstbeobachter, der seine eigene Psychopathologie und die Ausweglosigkeit seines Tuns erkennt, treibt Ferguson in eine suizidale Depression. Stilästhetisch am Film-Ende dargestellt durch seine erschlaffte Körperhaltung, die kraftlos herunterhängenden Arme und den stumpfen Blick in den Abgrund vom Dach des Glockenturms, von dem Judy/Madeleine in die Tiefe stürzte.
Die weltweite Resonanz vieler Hitchcock-Filme wird mit der bildgewaltigen Thematisierung der dunklen Seite in uns allen zu tun haben. Alfreds gekonntes Spiel mit Ambivalenz und Suspense, seine ihm selbst und allen ähnlichen Jekyll & Hyde-Charaktere, seine diabolisch-komischen Paradoxie-Entfaltungen und seine schaurig-schönen Verquickungen, seine schuldlos-schuldigen Unschuldigen und seine stink-normalen Psychopathen, seine grausamen Schönheiten und seine lustvollen Grausamkeiten, seine romantisch-irrsinnigen Doppelgänger und seine szenen-komplementären Doppelungen, seine gestörten Helden und seine verstörenden Heldinnen, seine extremen Intimitäten und seine intimen Offenbarungen, seine vieldeutigen Andeutungen und seine eindeutigen Zweideutigkeiten, die das Eine sagen und unmissverständlich das Andere meinen, all das und noch viel mehr entäußerte Innerlichkeit machen seine Filme zu eigensinnig-universalen Meisterwerken: frei von Zeit und Raum.


ICH-IDEAL und Filmerfolg
Bekannterweise bewegt sich das ICH-IDEAL im Spannungsfeld »narzisstisch wertvoll/narzisstisch wertlos« und operiert sowohl lust- als auch realitätsbetont. Es ist das Maß aller Maße, an dem das ICH sich misst, dem es nachstrebt und nacheifert, um sich in seinem Glanz zu sonnen. Es kann realistisch oder von infantilen Omnipotenzfantasien geprägt sein; jedenfalls erlebt der Mensch in seinem ICH-IDEAL strukturdeterminierte Vollkommenheits-Illusionen vielfältigster Art.
Filme à la Bond, Rambo, Batman und Fantomas machen sich diese Tatsache zunutze, indem sie vornehmlich infantile Omnipotenzen – Fliegen-können, Riesenkraft, Allwissen, Furchtlosigkeit, Unverletzlichkeit usw. – in Szene setzen. Nichtsdestoweniger gilt, dass diese omnipotenten Figuren immer nur in struktureller Koppelung mit ihrem Alter Ego, etwa dem genial-verrückten Bösewicht, funktionieren. Man denke an Sir Arthur Conan Doyles »Sherlock Holmes« und seinen kongenialen Widersacher Professor Moriaty oder an Ian Flemming‘s »007«, der stets mit hochintelligenten, aber psychopathologischen Persönlichkeiten zu kämpfen hat, die kraft extraordinärer Fähigkeiten die ganze Welt bedrohen und am Ende des Films in einem bombastischen Showdown ihren angemessenen Abgang haben.
Ein realistischeres, erwachsenes ICH-IDEAL findet man in Milos Forman's Kult-Klassiker »One flews over the Kuckucksnest«. Die dramatisierte Beziehung zwischen McMurphy (Jack Nicholson) und dem katatonen Indianerchef in der psychiatrischen Klinik, kann als konstruktiver Mentalitätswechsel gedeutet werden, weg von einer frustrierenden, unempathischen Mutter, hin zu einem väterlichen ICH-IDEAL.
ICH-IDEALE Erlebnis-Formationen aller Art als strukturelle Basics für den erfolgreichen Kinofilm? Möglicherweise! Schließlich ist der ICH-IDEALE Film – wie ich ihn sehe – das narzisstische »inside out« oder »outside in« des Rezipienten. Film und Beobachter bilden ein harmonisches Erlebnissystem, schwingen gemeinsam in konsonanten Rhythmen, konkordieren also auch in der Diskordanz.
Während viele Hitchcock-Werke mit unentschiedenen Unterscheidungen, wahrscheinlichen Unwahrscheinlichkeiten, unmöglichen Möglichkeiten, scheinbaren Tatsachen und multiplen Individuen eine Ästhetik der terriblen Kontingenz kultivieren, verstört der ICH-IDEALE Film durch narzisstische Einförmigkeit, und die hat bekanntlich zwei Seiten. Wenn nicht, noch mehr!
Folgende Übersicht zeigt, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, welche Film- und Filmumfeld-Parameter für eine optimale Erlebniskoppelung zu berücksichtigen sind:
• Filminhalt (Thematik) - ICH-IDEAL
• Filmtitel - ICH-IDEAL
• Werteproklamationen - ICH-IDEAL
• Image des Regisseurs - ICH-IDEAL
• Image des Produzenten -  ICH-IDEAL
• Image der Schauspieler - ICH-IDEAL
• Charaktere - ICH-IDEAL
• Dramaturgie - ICH-IDEAL
• Film-Musik - ICH-IDEAL
• Film-Ausstattung - ICH-IDEAL
• Kino-Image - ICH-IDEAL

Last not least spielen Aufwand und Effektivität der Film-Werbung eine nicht zu unterschätzende Neben-Rolle. »Hitch« hat‘s gewusst, fungierte zuerst selbst als Werbefachmann und stellte später welche an, die auch himself oder genauer: sein wohl-konstruiertes ICH-IDEAL ins Themenfeld öffentlicher Kommunikation katapultierten. So dass der Kultregisseur selber »Kult« wurde, und mit seinen kultigen Kurzauftritten im Film ein Übriges tat. Die Selbstbeobachtungs-zugängliche Seite dieses eigensinnigen Eigenkults reflektiert glasharten »Kommerz«; was der Meister des Suspense nicht sehen konnte, war das pulsierende Simultangeschehen auf der anderen Seite: der weitere Versuch selbststabilisierender Ausbuchtung früher Struktureinschläge.
Was mag sein autodynamisches Unbewusstes im Sinn gehabt haben? Möglicherweise dies: »Über mich wird grandios kommuniziert, also bin ich – trotz imperfekter Imperfektionen – grandios, darf mich wertvoll und schön fühlen«! Und sei‘s nur für Minuten.

ausführlich in meinem Buch
Volker Halstenberg: Psychopatho-Logik. Kybernetik - Psychoanalyse - Kunst - Kreativität. Daedalus-Verlag.
www.daedalus-verlag.de/front_content.php

siehe auch

www.amazon.de/gp/cdp/member-reviews/APP5FD9BZRUW4/ref=cm_cr_pr_auth_rev

www.medizin-im-text.de/blog/

Kein Autor eingetragen