Kybernetische Psychopathologie
Kybernetische Psychopathologie

Kybernetische Psychopathologie

Ein Abriss

Beitrag, Deutsch, 4 Seiten, Dr. Volker Halstenberg

Herausgeber / Co-Autor: Volker Halstenberg

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Kybernetische Psychopathologie

Autopoietische Systeme zeichnen sich durch selbstreferentiell-zirkuläre Operativität und hochselektiven Austausch mit spezifischen Umwelten aus. Systemevolution oder Co-Ontogenese – hier als persönliche Weiterentwicklung und seelisches Wachstum verstanden, wie es Tolstois krebskranker »Iwan Iljitsch« leider erst in seinen letzten Lebenstagen erfährt – finden nur durch Perturbation und Rückkoppelung statt, was besagt, dass das System bestimmte Irritationen in der Umwelt zum Anlass für eine selektive Respezifikation der Eigenstrukturen verwendet, immer unter der Bedingung der Aufrechterhaltung seiner Autopoiesis. Systeme sind rigoros darum bemüht, ihre autopoietische Selbstorganisation zu stabilisieren, fast so, als gäbe es keine Umwelt.

Offensichtlich können Perversionen im Denken, Fühlen und Verhalten, die man bei allen Geisteskrankheiten, Verrücktheiten oder psychischen Anomalien, je nach Schweregrad in unterschiedlicher Ausprägung und in unterschiedlicher Distanz zur Konsens-Normalität bis hin zur Unverstehbarkeit vorfindet, als Erscheinungsformen inkohärenter und inkonsistenter Selbstorganisation gedeutet werden.

Inkonsistenz-Konflikte können Resultat der Seiten-Äquilibrität einer vollzogenen Unterscheidung sein, wenn kein (Seiten-) Wert dem anderen vorgezogen wird. Folge: Die Unterscheidung kann nicht angemessen integriert werden und der Unterscheidende fluktuiert in ambivalenter Qual zwischen unentschiedenen Werte-Polen. Klassisch bei Neurosen: „Die Neurose ist in ihrer Struktur ambivalent, es ist ein Ja- und Nein-Sagen im gleichen Sachverhalt.” (BRÄUTIGAM 1978/75)

Da auch die psychischen Subsysteme auf Teufel komm raus ihre Autopoiesis stabilisieren, kann es zu Erlebens-Diskordanzen zwischen ICH, ÜBER-ICH, ES und ICH-IDEAL kommen, mit diversen pathologischen Folgen. Diagnostisch würde man in solchen Fällen von Störungen der Erlebnisverarbeitung sprechen.

Affektlogische Dysfunktionen gibt es nicht nur im Intersystembereich. Selbst innerhalb eines Systems können relativ autonome Substrukturen mit autopoietischem Eigenleben existieren, deren Diametralität das individuelle Selbsterleben fragmentiert. Dramatisch in Henrik Ibsens »Baumeister Solness«, dessen Frau Aline von zwei widerstreitenden ÜBER-ICH-Impulsen zerrissen wird, weil sie sowohl die Pflichten gegenüber ihrem Ehemann als auch gegenüber den Kindern zu erfüllen sucht.

Ein intrasystemischer ÜBER-ICH-Konflikt mit ICH-Störungen und schizophrenen Spätfolgen kann entstehen, wenn ein Kind mit widersprüchlichen Verhaltensregeln von Vater und Mutter konfrontiert wird und versucht, beiden nachzukommen.

Ähnlich kann Sadomasochismus in einem dual strukturierten ÜBER-ICH als Folge doppelter Identifizierung des Kindes mit einem sadistischen Vater und einer masochistischen Mutter begründet sein. Die zwangsläufige innere Zerrissenheit hat Goethe in seinem Faust in die trefflichen Worte gefasst: „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust.” Vielleicht noch prägnanter beim Rokoko-Dichter C. M. Wieland: „Zwei Seelen, ach, ich fühl' es zu gewiß! Bekämpfen sich in meiner Brust mit gleicher Kraft.”

Narzisstische Neurosen sind differenztheoretisch als Resultat der Wahrnehmungs-Diskrepanz zwischen Ist- und Soll-Zustand zu fassen, also anhand des Unterschieds zwischen Wirklichkeit und Wunsch. Wobei der Ist-Zustand nicht die Realität, sondern ihre idiosynkratische Konstruktion widerspiegelt. Ist- und Sollzustände reflektieren subjektive Wertungen. Man hat es hier mit einem relationalen Konzept zu tun, das einen Vektor impliziert, der reduziert werden soll: Der Ist- möge zum Soll-Zustand werden.

Strukturtechnisch handelt es sich um einen Konflikt zwischen ICH und ICH-IDEAL: Ersteres stellt ein persönliches Faktum fest (Du bist ehrgeizig, trittst beruflich aber auf der Stelle), den Letzteres nicht zu akzeptieren bereit ist (Du solltest schon lange Abteilungsleiter sein). Das Problem resultiert aus der Erkenntnis, dass etwas nicht so ist, wie es sein sollte. Aufgabe des Psychoanalytikers wäre u. a., die narzisstische Anspruchshaltung des ICH-IDEAL und seinen versteckten Sadismus auf seine strukturellen Ursprünge zu untersuchen, die möglicherweise in der frühkindlichen Identifikation des Kindes mit einem hassgeliebten Vater zu finden sind, der zu Höchstleistungen anspornte und mit Verachtung und Hohn reagierte, wenn das Kind sie nicht erfüllen konnte.
Aus Sicht der Klassischen wie der Kybernetischen Psychoanalyse hängt die Evolution des psychischen Systems stark von der Erlebens-Vergangenheit ab. Insbesondere Erlebnisse der Kindheit wirken strukturprägend und futurologisch, in dem Sinne, dass sie aus ihrer präinfantilen Strukturdeterminiertheit heraus Zukunft organisieren.

Veranschaulichen wir am Ödipuskomplex, dessen Inhalt übrigens nicht zuerst bei Sophokles, sondern schon 3100 v. Chr. auf den Tontafeln der Sumerer thematisiert wurde. (SIEGEL 1998) Er besagt nichts anderes, als dass bestimmte Erlebnisse – die in einem gestörten triangulären Interaktions-Kontext (Mutter/Vater/Kind) bzw. in der Nicht-Unterscheidung zweier psychosomatischer Systeme (Mutter/Kind) wurzeln – zu Strukturniederschlägen führen, die fortan die weitere Ontogenese programmieren, dergestalt, dass sinn-affine Erlebnisse immer wieder zirkulären Bezug auf sie nehmen.

Die ödipale Erlebnisstruktur prädisponiert spezifische Anschlussoperationen, die retroflexiv immer wieder ihren Ursprung durchlaufen und sich im Fortgang der Zeit entweder modifizierend (positiver Ödipuskomplex) oder nicht-modifizierend (negativer Ödipuskomplex) selbst reproduzieren. (siehe dazu FREUD 1923/296ff)

Heinrich von Kleist hat in seiner Komödie der Irrungen und Wirrungen »Amphitryon« die komplizierte Verflechtung beider Ödipusvarianten eindrucksvoll beschrieben.

Der Vater ist für den Knaben nicht nur der ödipale Rivale, der besiegt und beseitigt werden muss. Er ist zugleich der geliebte und bewunderte Held. Wieder zwei relativ autonome Substrukturen mit autopoietischem Eigenleben, die allerdings nicht per se pathogen wirken; erst dann, wenn ein insuffizientes, möglicherweise frühgestörtes ICH nicht in der Lage ist, die guten und bösen Objektfunktionen im Sinne eines realitätsgemäßen Sowohl-als-auch strukturell zu integrieren.

Begreift man Autopoiesis als existenziellen Wiederholungszwang oder reproduktive Selbst-Bestätigung, kommt automatisch »Charakter« ins Spiel. Letztlich nichts anderes als ein relativ permanentes System kontinuierlich repetierender und sich selbst stabilisierender Erlebens- und Verhaltensweisen. Hoffmann/Hochapfel (1995/150) definieren ihn als
„die Gesamtheit der stabilen und konsistenten psychischen Eigenheiten eines Individuums ..., mit denen es sich mit der Welt seiner Triebe und Emotionen einerseits und der seiner psychosozialen Gegebenheiten andererseits auseinandersetzt. Durch diese „charakteristischen” Eigenheiten unterscheiden (oder gleichen) sich die einzelnen Menschen.”

Charakter ist im Normalfall modifizierende Selbstreproduktion konsistenten Erlebens und Verhaltens. Der Normalcharakter zeichnet sich durch dynamische Stabilität aus. Charakterstörungen dagegen sind Selbstreproduktionen von Eigenzuständen, die nicht zeitgemäß evoluieren, sondern invariant auf einer unzeitgemäßen Betrachtung propellieren. Die zwangsneurotische Charakterstruktur e. c., die unter besonders pflege-wütigen Automobil-Fetischisten zu erkennen ist, basiert auf der Omnipräsenz von Erlebens- und Verhaltensweisen, die in der analen Phase wurzeln.

In Zusammenhang mit der oben genannten Werte-Äquilibration und dem intrasystemischen ÜBER-ICH-Konflikt soll das double-bind (BATESON 1972) kurz angerissen werden, bei dem eine Person von seiten einer – oder von mehreren – wichtigen Bezugsperson(en) gleichzeitig zwei diametral entgegengesetzte Verhaltenswerte wahrnimmt. Da keiner der Werte als falsch erkannt werden kann, muss auf beide simultan reagiert werden, womit die schizophrene Ambivalenz begründet sein kann. Dazu später ausführlicher.

Bei Psychosen inklusive Schizophrenie läuft die Autopoiesis entgegen ihrer ursprünglichen Funktion nicht nur mit, sondern wirkt temporär oder permanent totalisierend, absorbiert den Gesamtsinn und schließt ab von Umwelteinflüssen, anstatt zu öffnen. Das psychische System ist in einem Circulus vitiosus gefangen. Seine Eigenwerte haben ihre Außenbezüge weitgehend verloren. Co-Evolution mit der Umwelt findet nur noch auf Minimal-Niveau oder gar nicht mehr statt. Man denke an die Weltabgeschiedenheit des Autisten.

Als Begleitsymptome zeigen sich auf der einen Seite »Depersonalisation«, verstanden als Störung des Selbsterlebens (Identitätsstörungen, Selbstentfremdung), die oftmals das eigene Körperbild mit einschließt, und auf der anderen Seite »Derealisation«, verstanden als verzerrte Wahrnehmung der Umwelt.

Affektlogische Autopo(i)etiken führen bei Schizophrenie zur Ausbildung neologischer Zeichen- und Sprachcodes, die gar nicht oder nur schwer decodierbar sind. Besonders anschaulich bei der »Art brut«. So nannte Jean Dubuffet 1949 das Kunstschaffen von Schizophrenen und anderen Geistesgestörten, deren irrationale und zwanghafte Expressivität aus unbewussten Erlebnisquellen gespeist wird.

In der konstruktiven Auseinandersetzung mit dem künstlerischen Medium – Malerei, Bildhauerei, Dichtung oder was immer – kann der Kranke sein ganz spezielles Problem, sein ureigenes Seelendrama, sein idiosynkratisches Konflikterleben auf kreativem Wege zum Ausdruck bringen. Seine künstlerischen Formationen und Deformationen sind stets sinnreiche Widerspiegelungen psycho- und somatogener Prozesse.

Artistische Entäußerung von Innerlichkeit hat auf der einen Seite kathartisch-heilsame Eo-ipso-Effekte; auf der anderen Seite findet der Analytiker in den Kunstergüssen des Patienten eine Menge codiertes Primärmaterial, das er nach erfolgter Dechiffrierung, nachdem er seinen Eigensinn durchschaut hat, in reflektierten Dosen in das fokale System »Patient« zurückführen und damit Stufe zwei des Selbstheilungs-Prozesses zünden kann.

Nicht nur die Kunstergüsse von psychiatrisch oder medizinisch Klassifizierten, jede Art von Kunstschaffen hat immer mit Selbststabilisierung, Selbstheilung und Selbstoffenbarung zu tun. „Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen”, wusste ein Ahnherr der Psychoanalyse namens Friedrich Nietzsche.

ausführlich in meinem Buch
Volker Halstenberg: Psychopatho-Logik. Kybernetik - Psychoanalyse - Kunst - Kreativität. Daedalus-Verlag.

www.daedalus-verlag.de/front_content.php

siehe auch

www.medizin-im-text.de/blog/


volkerhalstenberg.blogg.de/

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