Psychopatho-Logik: Schizophrenie und Kunst
Psychopatho-Logik: Schizophrenie und Kunst

Psychopatho-Logik: Schizophrenie und Kunst

Beitrag, Deutsch, 10 Seiten, Daedalus Verlag

Herausgeber / Co-Autor: Volker Halstenberg

Erscheinungsdatum: 2003

Quelle: Volker Halstenberg


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Schizophrenie und Kunst
So wie für Aristoteles eine Kausalbeziehung zwischen melancholischem Wahnsinn und schöpferischer Schaffenskraft bestand, so unzweifelhaft sehen manche Wissenschaftler den Zusammenhang zwischen Schizophrenie und künstlerischem Ausdruck.

Der veränderte Erlebens- und Bewusstseinszustand in der schizophrenen Psychose kann bei entsprechender konstitutioneller Veranlagung kreative Fähigkeiten zu Tage fördern, vollkommen unabhängig davon, ob der Betroffene vor seiner Krankheit jemals künstlerisch tätig war. „Die Originalität der Schizophrenen entspringt den seelischen Krankheitsvorgängen, genauer gesagt, den Restitutionsversuchen innerhalb des Krankheitsgeschehens”, heißt es bei Navratil (1965/9). In Übereinstimmung mit Freuds Aussage: „Was wir für die Krankheitsproduktion halten, die Wahnbildung, ist in Wirklichkeit der Heilungsversuch, die Rekonstruktion” (GAY 1997/320), die Wiederherstellung der optimalen Selbstorganisation.

Wahn hat für den Psychotiker einen ganz einfachen Sinn: überleben. Entwurf einer imaginären Gegenwirklichkeit, die die Schmerzhaftigkeit der anderen Seite – die wirkliche Wirklichkeit – aufwiegen soll. Ähnlich wie Hieronymus Bosch in seinem Tryptichon »Der Garten der Lüste« oder Thomas Morus in seinem Roman »Über den besten Zustand des Staates und die neue Insel Utopia« counter-worlds entwarfen im Sinne des künstlerischen Ausschöpfens von anderen als den faktischen Möglichkeiten, und ähnlich wie Marcel Proust in seiner »Recherche du Temps perdu« gegen Zerfall und Tod anschrieb, so versucht der Geisteskranke auf seine Weise ein privates Sinn-Refugium zu konstruieren und zu stabilisieren: seine eigene Welt in der Welt: eine unter subjektiven Gesichtspunkten bessere Welt. Und so hat Wahn Sinn!

Unter Vernachlässigung genetisch-biochemischer** Faktoren (Erbanlage, Stoffwechselkrankheiten, Drogen), die Schizophrenie verursachen können, wollen wir uns im Folgenden bemühen, einen Eindruck darüber zu vermitteln, was diese Krankheit, an der pro Jahr rund 0,25% der erwachsenen Bevölkerung erkrankt, nosologisch bedeutet und welche psychosozialen Faktoren sie begünstigen können.

Nachdem der deutsche Arzt Snell schon 1865 die Monomanie – eine Vorform der Schizophrenie – von anderen Krankheiten unterschieden und der Schweizer Psychiater Kraepelin 1883 die Dementia Praecox beschrieben hatte, fasste der Fach-Kollege Eugen Bleuler erst im Jahre 1911 eine bestimmte Gruppe von Geisteskrankheiten unter dem Terminus »Schizophrenie« zusammen. Diese und jede andere begriffliche Spezifizierung oder nosologische Klassifizierung ist im Grunde ein Mechanismus zur Reduktion von Komplexität: Es werden andere Klassifikations-Möglichkeiten ausgeschlossen und zugleich therapeutische Interventionsmöglichkeiten vorgegeben.
Wenngleich die schizophrenen Erkrankungen in unterschiedliche Subsysteme differenziert werden können – paranoid-halluzinatorische Schizophrenie, Hebephrenie, Katatonie, postschizophrene Depression, Schizophrenia simplex – zeichnen sich doch alle Arten durch Störungen der Affekt- und Assoziationslogik aus. Dinge und Erlebnisse werden miteinander verknüpft, die nach den Regeln der normalen Logik und des common sense nichts miteinander zu tun haben.

Überdies kennzeichnet Schizophrenie eine Tendenz zur Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Schizophrene wollen etwas, und wollen es gleichzeitig nicht. Sie oszillieren in einer außerhalb des normalen Toleranzintervalls liegenden Geschwindigkeit zwischen den beiden Polen ihrer Ambivalenz.

Beobachtet man dieses Hin- und Herspringen mit einem zeitlichen Maßstab, der das Jetzt ein wenig ausgedehnter erfasst, und erwartet man eine Erlebens-Beständigkeit des Kranken für Stunden oder Tage, wird man zu dem Schluss kommen, „daß er die beiden Seiten seiner Ambivalenz gleichzeitig lebt.” (SIMON 1997/189)
Dagegen zeichnet sich der manisch-depressive Psychotiker durch die Ungleichzeitigkeit seines Ambivalenz-Erlebens aus. Er pendelt zwischen »Entweder oder«, lebt entweder seine manische oder seine depressive Seite, und zwar ohne wenn und aber. Man diagnostiziert ihn als krank, weil sich die Entweder-oder-Phasen über Wochen und Monate hinziehen können. Ein halbes Jahr Dr. Jekyll, ein halbes Jahr Mr. Hyde.

Was beim Schizophrenen zu schnell abläuft, passiert beim Manisch-Depressiven zu langsam. Laut Simon machen solche unterschiedlichen Rhythmen „nicht nur einen Unterschied zwischen Normalität und Verrücktheit, sondern auch zwischen den verschiedenen Formen der Verrücktheit.”
Relativierend muss allerdings bemerkt werden, dass beim Manisch-Depressiven (schizophrene) Mischbildungen in Form der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen vorkommen können. Anschaulich dramatisiert in Shakespeare’s »Hamlet«, wenn Ophelia in hypomanischer Weise tanzend, singend und Blumen streuend einen »hyperaroused state« stabilisiert, um den Schmerz und die Depression über den Tod ihres Geliebten abzuwehren.

Die eigen-sinnige Verfremdung psychischer ICH-Funktionen beim Schizophrenen entsteht nach Auffassung der Familienforschung – umstritten ist diese Auffassung nur, sofern einseitig einer schizophrenogenen Mutter die Schuld an der Krankheit zugewiesen wird, anstatt die Erlebens- und Kommunikations-Komplexität des gesamten Familiensystems zu sehen – durch bereits erwähnte double-binds: Eine Person nimmt von einer oder von mehreren relevanten Bezugsperson(en) simultan zwei diametral entgegengesetzte Verhaltenswerte wahr, etwa offenkundige Liebe und unterdrückte Feindseligkeit; oder sie muss der wiederholten Aufforderung gehorchen: Tu A und tu Nicht-A oder du wirst bestraft! Wobei auf seiten des Auffordernden A bewusst und Nicht-A unbewusst ist, was besagt, dass die diametralen Kommunikationen, soweit sie von einer Person kommen, auf unterschiedlichen psychischen Ebenen ablaufen.

Zum Beispiel könnte die verbale Aufforderung lauten: Komm zu mir! Obschon die emotionale Tonalität der Stimme diese Aufforderung negiert und das Gegenteil ausdrückt: Bleib mir vom Leibe! Da keine der beiden Aufforderungen als falsch erkannt werden kann – eine logisch uneindeutige Beziehungsdefinition –, muss der Prä-Schizophrene auf diese pragmatische Paradoxie gleichzeitig reagieren. Es kommt zur Verleugnung des Wahr-genommenen, mithin zur Negation der eigenen Wahrnehmungs- und Erlebensfähigkeit, zugunsten der Reaktion auf eine Pseudo-Wahrheit, womit die schizophrene Ambivalenz in statu nascendi begründet sein kann.
Pathogen wirkt auch die Tatsache, dass sich der Prä-Schizophrene, will er im Familiensystem überleben, der Widersprüchlichkeit der kommunikativen Botschaften von seiten der Familienmitglieder nicht bewusst werden darf. Er kann sich selbst nicht aus dem krankmachenden Systemkontext befreien. Dies wäre nur möglich, indem er metakommuniziert und die kontradiktorische Kommunikations-Zirkularität durchbricht. Aber dazu müsste ihm der Konflikt erst einmal als solcher bewusst werden.
Das Ominöse des double-bind besteht darin, dass eine Person für ihre richtigen Wahrnehmungen bestraft und überdies als böswillig oder verrückt bezeichnet wird, wenn sie es wagen sollte, eine Diskrepanz zu erkennen zwischen dem, was sie tatsächlich wahrnimmt und dem, was sie – aus Sicht der Interaktionsteilnehmer – wahrnehmen sollte. Dieser Konflikt zwischen Wahrnehmungsrealität und normativer (Über-Ich-) Realität und seine Folgen der Spaltung zwischen Selbst und Welt spielen im Übrigen in der Nosologie des Masochismus eine wichtige Rolle.
Die ausweglose paradoxe Gefangenschaft als schizophrenogenes (ätiologisches) Moment lässt sich besonders anschaulich durch einen Vergleich mit usuellen Situationen im Zen-Buddhismus vorführen, wo der Zen-Meister seinem Schüler zwecks Erleuchtung paradoxe Aufgabenstellungen – sogenannte koans – zu lösen gibt. Folgender Machart: »Rede nicht noch ergehe dich in Schweigen« oder (der Meister hält einen Stock über den Kopf des Schülers): »Wenn du sagst, dieser Stock sei wirklich, werde ich dich damit schlagen. Wenn du sagst, dieser Stock sei nicht wirklich, werde ich dich damit schlagen. Wenn du nichts sagst, werde ich dich damit schlagen.«
Im Unterschied zur Schizophrenie besteht bei koans allerdings eine sofort realisierbare Problemlösung. Wahrheit und Logik spielen keine Rolle. Es kommt allein darauf an, das Eigen-Nützliche zu tun, das aus dem paradoxen Dilemma herausführt. Also handeln, dem Meister den Stock entreißen und ihm – für beide Seiten heilsam schockierend – eins überbraten (vielleicht hat er es verdient), oder weniger drastisch: den Stock zerbrechen.
Analog müsste der Schizophrene, wenn er könnte, die pathogenen Regelkreise durchbrechen, die seinen Ausnahmezustand reproduzieren, und den Sozial- und Erlebens-Kontext wechseln.

Salvador Dali hat die schizophrene Ambivalenz in seinem anamorphotischen Vexierbild »Visage paranoîaque« dargestellt, auf dem ein Kopf zugleich Landschaft und Landschaft zugleich Kopf ist. Durch Drehung des Bildes um 90° nach rechts (Einführung des Unterscheidungs-Faktors »Zeit«) kann man die andere Seite sehen, die vorher nicht zu sehen ist.

Ein weiterer Heilungsansatz besteht darin, die Selbstbeobachtungs-Fähigkeiten des Schizophrenen zu stärken, ihn zum Second-order-observer auszubilden. Je besser er sich selbst zu beobachten lernt, umso fundierter seine Selbsterkenntnis, so dass er sich nicht nur als Opfer okkulter Kräfte, sondern als Täter eigenen Tuns erlebt.
Nach Watzlawick können die in einem double-bind gefangenen Personen auch durch ein therapeutisch initiiertes Gegen-double-bind kuriert werden. Similia similibus curentur, wie die Homöopathie zu sagen pflegt: Ähnliches werde durch Ähnliches kuriert. Was einen Menschen in den Wahnsinn treibt, kann ihn auch wieder aus dem Wahnsinn herausholen. Per Gegenschock.
Therapeutische Doppelbindungen zeichnen sich durch ähnliche Zwickmühlenhaftigkeit aus wie ihre pathologischen Spiegelbilder. Im Prinzip laufen sie nach folgendem Schema ab: 1. Der Therapeut (T) fordert den Patienten (P) zu einem Verhalten auf, das dieser ändern möchte. T fordert eine Verstärkung des pathologischen Moments und sagt zum Beispiel zum Phobiker: „Ich möchte, dass Sie Ihre Angst jetzt noch stärker empfinden als gewöhnlich.“ 2. T verkauft P die Verhaltensverstärkung als effektive Möglichkeit zur Verhaltensänderung, indem er möglicherweise suggeriert: „Glauben Sie mir, wenn Sie Ihre Angst verstärken, verschwindet sie.“ 3. T manövriert P somit in eine pragmatische Paradoxie, die da lautet: Änderung durch Nicht-Änderung. P kommt in eine unhaltbare Situation. Befolgt er T‘s Aufforderung, kann er seinen Defekt nicht mehr nicht erleben; er erlebt ihn gewollt, absichtlich, wodurch er unmöglich wird und der Zweck der Behandlung erreicht ist.
Wehrt sich P gegen T‘s Aufforderung, könnte er das nur durch nicht-symptomatisches Verhalten tun, womit der Behandlungszweck ebenfalls erfüllt wäre.

Kritisch anzumerken ist, dass Doppelbindungen im Grunde omnipräsente Phänomene sind, die unser aller Leben von der Wiege bis zur Bahre durchziehen. Widersprüchlichkeiten gehören zum Leben wie das Salz zur Suppe. Wenn das Diametrale integraler Bestandteil jedes psychischen Systems ist, müssten wir da gemäß double-bind nicht alle schizophren sein? Und da wir es offensichtlich nicht sind, hat sich damit nicht die double-bind-Theorie erledigt?
Ganz so einfach ist es nicht. Der double-bind-Ansatz hat durchaus seine Berechtigung, wenn man ihn in Zusammenhang mit der ICH-Reife eines Menschen reflektiert. Ein starkes, selbstbehauptendes, funktionstüchtiges ICH kann die obligatorischen Widersprüchlichkeiten im Fühlen, Denken und Handeln unter eine Einheit bringen ohne pathologische Folgeerscheinungen in Kauf nehmen zu müssen. Ein schwaches ICH dagegen, häufig bei pubertierenden Adoleszenten zu finden, oder ein noch nicht voll ausdifferenziertes, infantiles ICH, können diese synthetischen Integrationsleistungen noch nicht erbringen.

Man könnte folgende These aufstellen:
Wenn eine Person mit insuffizienten ICH-Leistungen in ein Interaktionssystem eingebunden ist, in dem eine uneindeutige Realitätsdefinition und instabile Verhaltensstrukturen vorherrschen, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass diese Person schizophren wird. Ebenso lässt sich vermuten, dass ein bestimmter somatischer Faktor – zum Beispiel »Stoffwechselstörung« oder »hereditäre Disposition« – von einem Menschen mit stabiler ICH-Struktur relativ leicht neutralisiert wird, während derselbe somatische Faktor bei jemandem mit ICH-Strukturdefiziten zu einer depressiven oder schizophrenen Psychose führen kann.
Als sicher darf angenommen werden (CIOMPI 1998), dass Kinder, die an Schizophrenie erkranken, in einer symbiotischen und symbolischen Fusion mit Eltern, speziell Müttern, aufgewachsen sind, die selbst unter narzisstischen ICH-Störungen und unscharfen ICH-Grenzen litten, d. h., sich von ihren eigenen Müttern/Eltern nicht differenzieren konnten. Solche Personen neigen aufgrund ihrer fundamentalen Strukturdefekte dazu, sich Ehepartner zu suchen, die gleichfalls narzisstische Selbstwert-Störungen aufweisen. Der Narzisst wählt aus narzisstischen Gründen den Narzissten, weil er irrigerweise annimmt, ein »Heilkraut« zur Vervollständigung seines zerrissenen Seelenlebens gefunden zu haben.
Hochwahrscheinlich aber ist, dass der narzisstische Partner, der selber nach Identitäts-Ergänzungen sucht, dieses Bedürfnis nicht oder nur unvollkommen erfüllen kann. Frustration, Entfremdung, Ehekonflikt sind die Folgen, die jedoch nicht in eine Trennung (Unterscheidung) münden, weil die narzisstische Relation in ihrem pathologischen Utilitarismus zur Perpetuierung neigt und eine Konflikt-Beobachtung aus Innen-Perspektive unmöglich macht.
Statt einer Trennung versuchen beide Partner oftmals das narzisstische Defizit durch ein Kind auszugleichen, wobei dieser dritte Kommunikations- und Erlebensfaktor narzisstisch-äquilibristisch-restitutiv funktionalisiert wird. Kybernetisch-psychoanalytisch gesehen führen solche Familien-Konstellationen zur Unfähigkeit des Kindes, sich vom Gesamtsystem »Familie« abzugrenzen. Es leidet unter Selbstdifferenzierungs-Problemen, bildet keine eigene Identität, kein autonomes Selbst, unterscheidet nicht – so wenig wie die Borderline-Persönlichkeit – zwischen eigenem und fremdem Erleben (Wahrnehmungen, Bedürfnisse, Ängste, Überzeugungen).
Es stabilisiert letztlich eine pathogene Autopoiesis, ein fehlerhaftes Propellieren auf einer nicht vorgenommenen Differenzierung. Vereinfacht könnte man sagen: Schizophrenie basiert auf einer perpetuierenden Nicht-Unterscheidung. Tragisch ist: Der Prä-Schizophrene und der Schizophrene leben nicht (Aktiv-Form), sondern lassen sich aus Loyalitätsgründen von einer paradox-funktionalistischen Umwelt leben (Passiv-Form), die zugleich Affirmation und Negation einfordert. Und dies unter dem Deckmantel scheinbar normaler Kommunikationsbeziehungen, deren Inhalts- oder Informations-Ebene durch die Formel: Ich tue alles für dich beschrieben werden kann, deren Beziehungs- oder Mitteilungs-Ebene aber das Gegenteil ausdrückt: Ich tue alles für mich.
Es sei darauf hingewiesen, dass auch Anorexia nervosa oder Pubertätsmagersucht, von der zu 95% Frauen betroffen sind (HABERMAS 1994), differenztheoretische Aspekte hat, insofern ihre Pathogenese im interaktionalen Prozess einer undifferenzierten Affektsozialisation gesehen wird.
Anorexia entsteht oftmals durch eine symbiotische - bis weit in die Nach-Adoleszenz reichende - Tochter-Mutter-Beziehung, wobei die Mutter aufgrund ihrer narzisstischen Eigenproblematik nicht in der Lage ist, der Tochter eine positive Geschlechtsidentität zu vermitteln und ein gesundes Autonomiestreben zuzulassen. Außerdem kann Parentifizierung eine Rolle spielen, bei der dem Kind Funktionen eines Elternteils aufgebürdet werden, um das familiäre Gleichgewicht aufrechtzuerhalten.
Der Eigenzustand des anorektischen und des schizophrenen Familienmitgliedes ist für die Stabilität des Familiensystems von fundamentaler Bedeutung. Jede Intervention von innen oder außen wird durch negative Rückkoppelung prinzipiell sofort neutralisiert, mit dem Ziel der Wiederherstellung der pathogenen Familien-Homöostase. Der Kybernetische Psychoanalytiker muss sich also u. a. fragen: Welche Bedeutung hat die Krankheits-Symptomatik für die Aufrechterhaltung des familiären Gleichgewichts?
Haben sich bestimmte Kommunikations- und Erlebensstrukturen einmal etabliert, entwickeln sie eine Eigendynamik, der gegenüber das Individuum weitgehend machtlos ist. Solange keine Meta-Kommunikation in Form der Kommunikation über die pathologische Kommunikation und das pathologische Erleben möglich ist.
Pathogene Familien-Homöostasen und schizophrene Symptomatiken werden umso besser funktionieren, je rigoroser das familiäre System in sich selbst zirkuliert, je abgeschlossener es ist, je weniger es durch Umwelt-Perturbationen beunruhigt und modifiziert werden kann, je mehr es die Eigenschaften einer »totalen Institution« (E. Goffman) annimmt, in der jeder Ausbruchsversuch unweigerlich zum Scheitern verurteilt ist. Es geht ähnlich zu wie in Orwell‘s Überwachungsstaat. Alle stehen per Telescreen unter ständiger Aufsicht. Big brother is watching you. Jedes Denk- und Gesichts-Verbrechen wird geahndet. Doppeldenk wird zur Normalität: Krieg bedeutet Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke, Schwäche ist Macht und Schmerz ist Lust, was jeder Masochist bestätigen wird.

Problematisch in der Therapie von Schizophrenen ist, dass sie Wörter (Symbole) oft als Objekte und Handlungen erleben. Sie unterscheiden nicht zwischen Symbol und Symbolisiertem, setzen bewusst und/oder unbewusst die Vorstellung »wie etwas zu sein« gleich mit »das zu sein«. Symbol = Objekt. Der Schizophrene hält die Speisekarte für die Speise und die Landkarte für das Land. Das Wort wird konkretistisch: es ist, was es bezeichnet: zum Beispiel ein böses Objekt. Für den Schizophrenen in seinem paläo-logischen Denken „hören die verbalen Symbole auf, eine Gruppe oder Klasse zu repräsentieren, sondern sie stehen nur noch für das spezifische Objekt, über das gerade gesprochen wird.” (ARIETI 1978/31)
Durch diese Gleichsetzung ist es möglich, dass unempathische – die subjektive Eigenwirklichkeit des Kranken nicht berücksichtigende – Deutungen des Analytikers als intensive Verfolgungsängste und/oder als destruktive Eingriffe erlebt werden, und einen traumatischen präinfantilen Interaktionskontext reproduzieren. Der Patient erlebt den Analytiker als böses, kränkendes, verletzendes, befehlendes Objekt der frühen Kindheit.
Erkennt der Analytiker das nicht und insistiert auf der vermeintlichen Richtigkeit seiner Interventionen, reagiert der Patient vermutlich mit einer Verstärkung seiner psychotischen »Anstrengungen«, die für ihn stets selbststabilisierende Funktionen haben und dem Überleben dienen. Man hat es augenscheinlich mit einem typischen Fall von pathogener Soziopoiesis oder einer folie à deux zu tun. Am Ende steht die voll ausgeprägte Übertragungspsychose, bei der nichts mehr geht.
Anstatt zu deuten, mag es dem Heilungserfolg zuträglich sein, die Wahnwelt des Psychotikers zunächst zu akzeptieren und zu bestätigen – Similia similibus curentur – und erst im nächsten Schritt deutend vorzugehen. Erst Empathie dann Therapie oder um mit Bion zu sprechen: erst Containing: Aufnahme der chaotischen und pathologischen Affektlogik und Entgiftung derselben, dann erst deutende Reinterpretation des entschärften Materials. Stolorow u. a. schreiben (1996/181):

„Für den Behandlungsprozess war entscheidend, dass der Analytiker den Kern der subjektiven Wirklichkeit erkennen konnte (...) Als der Analytiker ... klären konnte, wie seine Deutungen vom Patienten im Kontext seines verzweifelten Verlangens nach Bewunderung und Aufwertung als tödliche Angriffe auf seine seelische Unversehrtheit erlebt wurden, war es möglich, sowohl die Übertragungspsychose aufzulösen als auch mit der Bildung einer archaischen Selbstobjekt-Übertragung zu beginnen.”

Der Analytiker weiß, dass sein modus operandi, seine Beobachtungs-Mentalität und natürlich seine Persönlichkeit Einfluss auf das Beobachtete haben. Geht er mit einem anderen theoretischen Ansatz an den Fall heran, wird er anderes beobachten, weil das beobachtete System zu einer anderen Reaktion veranlasst wird. Schließlich handelt es sich beim therapeutischen Setting um eine mutuale Erlebensbeziehung, in der das Bewusste und das Unbewusste des einen in kontinuierlicher Wechselwirkung mit dem Bewussten und dem Unbewussten des anderen steht.
Schizophrenie kann auch dadurch entstehen, wenn beim Kind die präinfantile Spaltung der Mutter-Repräsentanz in »gute Brustmutter« und »böse Strafmutter« – die man im Übrigen bei zahlreichen Homosexuellen beiderlei Geschlechts findet – nicht in die obligatorische Synthetisierung mündet, sondern als Grundmuster auf eine höhere kognitiv-affektive Organisationsstufe mitgenommen wird. Das könnte dazu führen, dass das ICH-System Ambivalenz als stabile Erwartungsstruktur ausbildet und somit Ambivalenz in Permanenz erlebt, wodurch ein pathologischer Dauerzustand etabliert würde.
Zu schizophrenen Wahnvorstellungen kann es ebenfalls kommen, wenn das fragmentierte ICH zur Aufrechterhaltung seiner splitterästhetischen Selbstorganisation die primitiven Abwehrmaßnahmen der Projektion oder projektiven Identifikation einsetzt. Dabei werden verdrängte und aggressiv-destruktive Selbstanteile externalisiert und im bedrohlichen Anderen reanimiert. Das Böse ist draußen, im »Du«. Der Kranke kann es im Anderen hassen, kann ihm möglicherweise aus dem Wege gehen und so flüchtet er paranoiderweise vor sich selbst.
Legt zum Beispiel der psychoanalytische Patient sein Böses via Projektion oder projektiver Identifikation in den Analytiker hinein, muss er ihn fürchten, eventuell die Übertragung oder gar die Analyse abbrechen, aus Angst, der Analytiker könnte das ihm aufgezwungene Böse wieder zurückgeben. Solche Ängste können laut Hanna Segal auch die Ursache von Menschenmassen-Phobien sein.
Hat sich Ambivalenz als autonome Substruktur in der Selbstorganisation des psychischen Systems eingenistet, kann dies – wie die Verdrängung von ICH-Anteilen – zu einem schweren Depersonalisations-Syndrom und zur Spaltung der Persönlichkeit à la Jekyll und Hyde oder Dr. Lecter und Hannibal the cannibal führen.
Das Unbewusste, Verdrängte, Abgespaltene, ständig um Anerkennung ringend, bricht aus der Verbannung durch, gewinnt zeitweilig die Oberhand und dominiert das individuelle Selbsterleben, ähnlich wie im Traum. Kant sagt: „Der Verrückte ist ein Träumer im Wachen”, Schopenhauer nennt den Traum einen kurzen Wahnsinn und den Wahnsinn einen langen Traum. Und Moser/von Zeppelin betrachten den Traum als eine von vielen parallel existierenden mentalen Mikrowelten, in der der Wahnsinn Methode hat. „Though this may be madness, yet there´s method in it,” meint Polonius in Shakespeare's Hamlet (2. Akt/2. Szene).

Zum Aufbruch in eine schizophrene Traumlandschaft kann es ferner kommen, wenn gesellschaftliche Kommunikationsstrukturen im Zuge rasanter technologischer Entwicklungen derartig pervertiert und sterilisiert werden – in Orwell‘s »1984« erschütternd beschrieben –, dass dem Individuum zwecks Aufrechterhaltung eines sinnlich erfüllten Lebens nur der Rückzug in eine selbstgeschaffene Symbolwelt bleibt. Genau diesen Weg gingen die Surrealisten. (ausführlich in meinem Buch) 
Entgegen der alten Kraepelin'schen organpathologischen Verblödungsthese ist man sich heute weitgehend darüber einig, dass Schizophrene ihre intellektuelle Leistungsfähigkeit in der Regel nicht prinzipiell, sondern graduell und temporär einbüßen. Sie verlieren die Fähigkeit zur adäquaten Kommunikation auf der ICH-Ebene und entwickeln eine paranoide Erlebens-Logik, die sich unter anderem durch Diskrepanz zwischen verbaler Botschaft und ihrer Qualifizierung durch Stimme, Gestik und Mimik auszeichnet.
Symptomatisch ist ferner die Ausbildung einer bizarren Neorealität verbunden mit neologistischer, eigensinniger Sprachschöpfung, die gewisse Konkordanzen mit der Dichtkunst aufweist.

„Bei der Schizophrenie werden die Worte demselben Prozeß unterworfen, der aus den latenten Traumgedanken die Traumbilder macht, den wir den psychischen Primärvorgang geheißen haben. Sie werden verdichtet und übertragen einander ihre Besetzungen restlos durch Verschiebung; der Prozeß kann so weit gehen, daß ein einziges, durch mehrfache Beziehungen dazu geeignetes Wort die Vertretung einer ganzen Gedankenkette übernimmt.” (FREUD 1915/157f)

Die moderne Neuroanatomie (KIEFER 1998) unterstützt Freuds Aussage, wenn sie sagt, dass Schizophrene sich durch Gedankensprünge und assoziativ-lockeres Aneinanderreihen von Worten, also durch desorganisiertes Denken und Sprechen auszeichnen.
Nicht selten wird das eigene Körperbild in Mitleidenschaft gezogen: Der Schizophrene erlebt seinen Körper als fremd, unwirklich, deformiert. Parallelen zwischen zönästhetischer Schizophrenie und Dysmorphophobie oder Missgestaltsfurcht tun sich auf, die Küchenhoff nosologisch zwischen hypochondrischen Syndromen und Beachtungswahn einordnet, der oftmals unbewusste aggressive Impulse zugrunde liegen, die von außen nach innen, von der Umwelt auf das eigene Selbst verschoben und konvertiert werden. Man lese i. d. Z. Freuds Abhandlung »Der Wolfsmann« aus dem Jahre 1918.
Manche Schizophrene sehen sich in Tiere verwandelt, andere werden größenwahnsinnig, wieder andere fühlen sich verfolgt, noch andere taumeln in einem hyperkinetischen Bewegungs-Delirium, wie man es bei extrapyramidalen Hirnerkrankungen findet. Manche verharren still in seltsamen Körperstellungen. Wieder andere ergehen sich in lautstarken Tobsuchtsanfällen. Noch andere halten sich für Propheten und verkünden transpersonale Visionen. Psychiater Ronald D. Laing sagte einmal, Mystiker und Schizophrene befinden sich im selben mentalen Ozean; doch die Mystiker schwimmen, während die Schizophrenen ertrinken.
Manche Schizophrene verlieren das Gefühl für Raum und Zeit, andere verlieren die Fähigkeit zur Unterscheidung von innen und außen, sind eins mit der sie umgebenden Welt. Die schizophrene Symptomatologie ist breit gefächert und die Aussage der alten französischen Psychiatrie »La Hysterie imite les maladies« trifft ebenso auf die Schizophrenie zu. Jeder Kopf lebt seine eigene.
Oftmals sind Schizophrene hyperaffektiv geladen, hochgradig sensibel und feinfühlig, erleben bestimmte psychische Eigenheiten und untergründige Widersprüchlichkeiten ihrer selbst und anderer Personen intensiver als der Gesunde. Überraschend tiefsinnige Einblicke in das eigene und fremde psychische Funktionieren ist bei diesen Kranken keine Seltenheit. Als ein Psychiater einmal einen schizophrenen Patienten fragte, warum er seit seiner Erkrankung aufgehört habe, Geige zu spielen, echauffierte sich dieser mit den Worten: „Warum? Erwarten Sie, daß ich in der Öffentlichkeit onaniere?” Offensichtlich war dem Patienten die symbolische Bedeutung der Geige vollkommen bewusst.
Affekterleben und intuitionslogische Schlussfolgerungen des Schizophrenen entsprechen durchaus subjektiv-realen Gegebenheiten; allerdings bezieht sich beides in erster Linie auf solche endogenen und exogenen Faktoren, die dem Unbewussten angehören. Es überwiegt, wie Freud im obigen Zitat meinte, das primärprozesshafte Erleben, das auch den Säugling kennzeichnet. Insofern könnte man Schizophrenie als Reaktionskrankheit auf dominante ES-Impulse deuten, die in ihrer subjektiv empfundenen Mächtigkeit zur affektlogischen Ohnmacht des Betroffenen führen. Die Ordnungsfunktionen des ICH werden teilweise ausgeschaltet. Der Kranke erlebt den totalen Zusammenbruch der Welt.
Sobald die übersteigerte Affektivität abklingt und die Angst nachlässt, kommt die Selbstheilungs-Funktion zum Tragen. Der Kranke greift nach allen Ordnungssystemen, die ihm zur Verfügung stehen, um seine innere Stabilität und seine Weltverbundenheit wiederzuerlangen. Eines dieser Ordnungssysteme ist die Kunst.

Das Kapitel „Die Kunst der Selbststabilisierung“ beschäftigt sich genauer mit der sogennanten Art brut - so nannte Jean Dubuffet 1949 das Kunstschaffen von Schizophrenen und anderen 'Gestörten' - und zeigt zugleich die fließenden Übergänge zur anderen Seite, also zur Art culturel. 
Krank, gesund, normal, pervers, biophil, nekrophil, schockierend, schön: Worte, nichts als Worte, könnte man Ibn ul‘ Arabi paraphrasieren. In der modernen-postmodernen Kunst – und nicht nur da – verschwimmen die Unterschiede. Ab-art-ig-rohes hat längst Hochkonjunktur. Kaum jemanden regts auf, die meisten regts an. Schließlich hat der artistische Wahnwitz in jedem Fall Methode, ist bewusst-unbewusst durchkomponiert bis in die letzte Kameraeinstellung, den letzten Tastenschlag oder den letzten Pinselstrich, stets oder doch häufig mit eurhythmischem Blick auf die andere Seite: den Konsumenten. Und der ist mittlerweile Einiges gewohnt.

Im Übrigen: Was gestern als private Krankheit oder Anormalität diskriminiert wurde, kann heute oder morgen zum mainstreamigen Verhaltensrepertoire gehören. Homo borderlinicus normalis! Jede Zeit, jede Gesellschaft, jede Kultur schafft ihr ureigenes Pathostrat, das auf die eine oder andere Weise auch den Künstler nährt.

Würde das moderne Theater à la Beckett, Ionesco und Genet sowie der moderne Horror- und Science Fiction-Film – man denke an Alfred Hitchcocks »Psycho«, Wes Cravens »Scream«, John Carpenters »Halloween«, Stephen Kings »Es«, Jonathan Demmes »Das Schweigen der Lämmer« und Ridley Scotts »Blade Runner« –, ja selbst die schöne Belletristik eines Patrick Süskind (Das Parfüm) oder eines Robert Schneider (Schlafes Bruder) etc. etc. ohne psychopathoeuthanasadikannibalogische Berufung aller Beteiligten überhaupt existieren?
ausführlich in: Volker Halstenberg: Psychopatho-Logik. Kybernetik - Psychoanalyse - Kunst - Kreativität. Daedalus-Verlag 2003.

siehe z. B. auch www.medizin-im-text.de/blog/

** DAS Schizophrenie-Gen gibt es genauso wenig wie DAS Autismus verursachende Gen. Eher kann man von einer polygenetischen Disposition zur Schizophrenie sprechen. In genomweiten Assoziationsstudien haben Wissenschaftler 3 sogenannte "Copy Number Variations" identifiziert (CNVs sind DNA-Sequenzen mit einer Länge von mindestens 100.000 Bausteinen, die zwischen verschiedenen Menschen variieren, vor allem in Hinsicht auf die Kopienanzahl, in der sie auftreten), eines auf Chromosom 1 und die beiden anderen auf Chromosom 15, die für die Entstehung von Schizophrenie und anderen verwandten Psychosen relevant sein könnten. Ähnlich wie mit CNVs lassen sich durch SNPs (Single Nucleotide Polymorphisms = Variationen von einzelnen Basenpaaren in einem DNA-Strang) Individuen eindeutig voneinander unterscheiden. Eine polygenetische Disposition allein besagt im Prinzip noch gar nichts, bis auf die Tatsache, dass sie "da" ist. Stets ist das komplexe Zusammenspiel von biologischen, psychosozialen und soziokulturellen Faktoren im Auge zu behalten.

siehe z. B.:

www.ciompi.com/de/schizophrenie.html

- Hreinn Stefansson, Roel A. Ophoff et al.: Common variants conferring risk of schizophrenia, in Nature, July 1/2009.

- Prof. Paul Lichtenstein PhD, Benjamin H. Yip MSc et al.: Common genetic determinants of schizophrenia and bipolar disorder in Swedish families: a population-based study, in: The Lancet, Jan 17/2009, Vol. 373 No. 9659 pp 234-239.


Autismus
Den Grundsymptomen – im Unterschied zur akzessorischen Symptomatik – der Schizophrenien zugehörig, bezeichnet Autismus eine intellektuelle, emotionale und soziale Kontaktstörung zur Umwelt, eine selbstgewählte Klausur. Autisten leben wie von einer Glaswand umgeben schweigsam und still „in einer eigenen Gedanken- und Vorstellungswelt. Dabei bleibt der sachliche Konnex bei großer emotionaler Leere völlig unbeeinflußbar.“ (PETERS 1990/54)
Die soziale Welt existiert für den Autisten nicht oder nur rudimentär. Sein Selbsterleben basiert auf affektlogischen Zirkularitäten, die durch externen Sinn nicht oder nur schwer gestört werden können. Überhaupt illustriert das psychosomatopsychische Krankheitsbild des Autismus in absonderlicher Manier die zentralen Grundannahmen des Luhmannianisch-Freudianischen Denkansatzes: Angefangen von der strikten Unterscheidung zwischen psychischem und kommunikativem System über die Autopoiesis des Bewusstseins bis hin zu selbstreferentiellem Erleben, psychischer Intransparenz und der Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation, also der Wahrscheinlichkeit von Isolation. Hätte der Psychiater Eugen Bleuler den Begriff »Autismus« nicht erfunden, wäre er vermutlich einem Kybernetischen Psychoanalytiker eingefallen.
Faktum ist: Über Autismus kann man kommunizieren, mit einem Autisten nicht. Möglicherweise will er auch gar nicht. Möglicherweise handelt es sich um ein gewolltes Nichtwollen; dann hätte man es mit einer Kommunikation der intentionalen Nicht-Kommunikation zu tun, denn Watzlawickscherweise kann man nicht nicht-kommunizieren. Möglicherweise basiert dieses Nichtwollen auf einer nicht-enttautologisierten, hyperaktiven Selbstreferenz des Bewusstseins. Möglicherweise handelt es sich um ein Nichtkönnen infolge entwicklungspsychologischer Defizite in der frühen Mutter-Kind-Kommunikation. Möglicherweise wird dieses affektlogische Nichtkönnen durch stereotype, autodestruktive Körperbewegungen, durch eine Rekurrenz auf die Körperbasis (Faustschläge gegen die eigene Stirn, Aufreißen der Haut, Schlagen des Kopfes gegen die Wand etc.) überkompensiert.
Möglicherweise basieren die kognitiv-affektiv-sensumotorischen Anomalien des Autisten auf zerebral-organischen Läsionen oder auf neuronalen Insuffizienzen; speziell auf informationalen Fehlprogrammierungen des Frontalcortex, dann also auf dysfunktionaler Apperzeption. Möglicherweise spielen dabei Raum-Zeit-strukturelle Dysregulationen und Dyskoordinationen intermodal und serial ablaufender Nerven- und Informationsverarbeitungs-Prozesse (Kodierung, Speicherung, Dekodierung) eine wichtige Rolle.
Möglicherweise ist Autismus eine »eisige« Form von Inkompetenz-Kompensations-Kompetenz, die ICH-Struktur-Defizite ausgleicht, indem sie den unbändigen Lauf der Welt einfriert und zum beschaulichen Stillstand bringt. Heraklit macht Angst, es lebe Parmenides. Das Draußen wird nicht mehr als lustvolle Veränderungs-, sondern als Unlust bereitende Gefahrenquelle für das Drinnen gesehen. Veränderung, laut Georg Christoph Lichtenberg den meisten Menschen ein ewiges Vergnügen, erlebt der Autist als Bedrohung. Er flieht die Welt wie ein Mönch, nur aus anderen Gründen, nämlich aus Angst vor ihrer Unberechenbarkeit, was zwangsläufig zu hypertropher Selbstreferenz führt.

„Diese Selbstreferenz verfügt kaum noch über Möglichkeiten ihrer Enttautologisierung, sie diskriminiert nicht mehr das Außen und am Außen (via Fremdreferenz) sich selbst. Sie operiert nur noch auf der Basis der internen Ressourcen, auf eigenen Informationsbeständen, in der eigenen strukturellen Determination. Als überbordende Selbstreferenz ... ist Angst die drastischste Krise der Anschlußfähigkeit, die wir kennen.“ (FUCHS 1995/168f)

Möglicherweise handelt es sich beim Autismus auch um die Abart einer »noogenen« Neurose: um eine Sinnkrise. Möglicherweise ist der Autist lieber in sich selbst als außer sich. Möglicherweise ist ihm sein Eigenleben interessanter als das Weltgeschehen. Möglicherweise bestraft er durch seine Nicht-Partizipation die Welt oder ein präinfantiles Selbstobjekt. Möglicherweise stabilisiert er sein Selbsterleben durch Nicht-Kommunikation. Möglicherweise kann – oben angedeutet – Autismus so verstanden werden, dass die Autopoiesis hier entgegen ihrer ursprünglichen Funktion nicht nur mitläuft, sondern permanent totalisierend wirkt, den Gesamtsinn absorbiert und abschließt von Umwelteinflüssen, anstatt zu öffnen. Das psychische System zirkuliert in einem informationalen Circulus vitiosus oder in einer pathogenen Erlebens-Autopoiesis. Seine Eigenwerte haben ihre Außenbezüge weitgehend verloren. Co-Evolution mit der Umwelt findet nur noch auf Minimal-Niveau oder gar nicht mehr statt. Möglicherweise handelt es sich beim Autismus um eine Agglutination verschiedenster der aufgeführten Möglichkeiten. Wahrscheinlich sogar!
Sucht man in einschlägiger Fachliteratur nach ätiologischen Faktoren, stößt man unwillkürlich auf eine Vielzahl von Möglichkeiten, die sich cum grano salis in vier Stränge differenzieren lassen, wobei das Körnchen Salz hier diverse Schnittstellen meint.
Der auf Kanner (1943) zurückgehende psychogenetische Ansatz, bei dem schizoide und autistische Verhaltensweisen beider Elternteile eine wichtige Rolle spielen; die psychopathische Variante, von Asperger 1944 ins Spiel gebracht, die ebenfalls psychogenetische Faktoren favorisiert, im Unterschied zu Kanner allerdings nicht beide Elternteile, sondern nur einen (Vater oder Mutter) zur Konfirmation des kindlichen Autismus benötigt; der organologische Ansatz, bei dem es um das Aufspüren zerebral-organischer Defekte geht, die Autismus erklären und schließlich das entwicklungspsychologische Modell, das im Sinne der Kybernetischen Psychoanalyse Beziehungsstrukturen berücksichtigt.
Ohne die einzelnen Erklärungsmodelle genauer vorzustellen, lässt sich festhalten, dass das allen gemeinsame Moment die Unterbrechung des kommunikativen Austausches zwischen einem psychosomatischen System und seiner Umwelt ist. Autistische Kinder „sind offenbar nicht imstande, sprachliche Äußerungen zu dechiffrieren, zu speichern und zu reproduzieren.“ (NISSEN 1978/31) Die strukturelle Koppelung, durch die sich psychisches und sozial-kommunikatives System gegenseitig Eigenkomplexität als Möglichkeit von konstruktiven Anschlussoperationen zur Verfügung stellen, was offensichtlich bei Milliarden routinierter Kommunikanten tagtäglich problemlos funktioniert, ist unterbrochen und macht Kommunikation nicht nur unwahrscheinlich, sondern weitgehend unmöglich: jedenfalls die obligatorische.
Fasst man Kommunikation im weitesten Sinne und subsumiert nicht nur verbale, sondern ebenso emotionale, gestische, mimische und andere motorische Formen der Bezugnahme, kann die autistische Störung nur und ausschließlich vor dem Hintergrund von Kommunikation registriert werden. (FUCHS 1995) Der aus welchen Gründen auch immer Nicht-Kommunizierende und Nicht-Partizipierende ist stets der Böse, der »Rain-Man«, der aus dem sozialen Rahmen Fallende, der sich nicht an die obligatorischen Usancen Haltende, der Unheimliche also, der, welcher nicht zum heimischen Herd, sprich zur sozialen Gruppe gehört und sich damit per se verdächtig und anfällig macht. Für psychiatrische und psychopathologische Klassifizierungen und Stigmatisierungen. Aber wir wollen nicht zu weit in Gesundheitspolitisches abdriften, bleiben wir ätiologisch:
Unter dem Gesichtspunkt gestörter Kommunikation und Erlebnisverarbeitung springen zunächst zwei plausible Erklärungs-Möglichkeiten ins Auge: 1. Kindlicher Autismus infolge früher Mutter-Trennung, Hospitalisierung und anaklitischer Deprivation und 2. Autismus infolge einer dysfunktionalen Mutter-Kind-Interaktion.
Eine unempathische Mutter, die aufgrund eigener Defektologie dazu neigt, ihr Selbsterleben mehr durch Innenschau und Introspektion zu stabilisieren, die der Welt am liebsten den Rücken kehrt und in ihrem bewussten und unbewussten Verhalten zum Ausdruck bringt, dass die ganze Welt schlecht, alle Fremden böse und der persönliche Einfluss aufs Dasein höchst begrenzt ist, wird möglicherweise bei ihrem Kind genau jene Form von affektlogischer Hyper-Idiosynkrasie ins Leben rufen, die Autismus heißt.
Seine bewussten und unbewussten Beobachtungen der bewussten und unbewussten Mutter-Kommunikation können beim Kind ominöse Eigenlogiken ins Kraut schießen lassen, die zu einer strukturellen Entkoppelung des psycho-somato-sozialen Systems und damit zu einer tautologischen Selbststabilisierung im autistischen Eigensinn führen. Folglich haben wir es wieder, aus Innenperspektive gesehen, mit einer besonderen Form von Selbstorganisation zu tun. Von seinem Standpunkt aus operiert und prozessiert das autistische System funktional sinnvoll und stimmig. Wie immer muss der professionelle Beobachter den latenten Sinn im evidenten Unsinn erkennen und ihn therapeutisch fruchtbar machen. Die Unterscheidung, gemäß der er beobachtet, muss die Sinnseite favorisieren, nicht die andere.
Abstrahiert man von genetisch** und neuronal bedingtem Autismus, für die heilpädagogische und pharmakologische Therapien indiziert sind, und konzentriert sich auf Psychotherapie, bedeutet das zunächst eine Affirmation des Autisten – die kann für ihn bereits ein erster heilsamer Schock sein – als eines Menschen, der versucht, seine inneren Notwendigkeiten sinnvoll zu organisieren und zu überleben. Und ein äußerer Eingriff in interne Operativitäten ist weder auf die harte Tour noch auf direktem Wege möglich, weil jedes System rigoros darum bemüht ist, seine Autopoiesis zu stabilisieren, egal ob pathologisch oder nicht.
Es kann nicht darum gehen, den Autisten mit brachial-manipulativen Methoden möglichst rasch von seiner scheinbaren Unheimlichkeit zu befreien und ihn zu einem reibungslos funktionierenden Kommunikanten zu machen.
Ich plädiere nach dem affirmativen für weitere heilsame Schock-Differenzen in Form des Aufzeigens von produktiveren als den praktizierten (autistischen) Möglichkeiten. Eventuell mit Hilfe der Computertechnik, die zu veränderten Selbstbeobachtungs-Modalitäten, verbesserter Selbstkompetenz und zu einem Gefühl des berechenbaren Verstandenwerdens führen kann. Möglicherweise lässt sich die überbordende Selbstreferenz des Autisten auch mit Hilfe der Kunst enttautologisieren und mit fremdreferentiellen Chancen anreichern, auf dass er seine totalitäre Operativität in eine weltgemäße Subjektivität verwandelt.

aus: Volker Halstenberg: Psychopatho-Logik: Kybernetik - Psychoanalyse - Kunst - Kreativität. Daedalus Verlag 2003. www.daedalus-verlag.de/front_content.php

** Ähnlich wie bei Schizophrenie könnte beim Autismus - der bei Männern viermal häufiger auftritt als bei Frauen - eine polygenetische Disposition vorliegen, wobei neben Veränderungen der Chromosomen 15 und 11 insbesondere Mutationen in solchen Genen ins Blickfeld geraten sind, die die Bauanleitung für Proteine aus der Familie der Neuroligine enthalten. Neuroligine sorgen für eine funktionierende Signalübertragung zwischen den Nervenzellen. Fehlen z. B. die Proteine Neuroligin-3 und Neuroligin-4, ist die Reifung der neuronalen Kontaktstellen (Synapsen) und die Produktion des Neurotransmitters Glutamat gestört. Die Neuronen können nicht mehr miteinander kommunizieren. Es kommt zu vielfältigsten Störungen der Informationsverarbeitung. Andererseits gibt es unter Autisten viele Savants (Hochtalentierte) mit phänomenalen Fähigkeiten auf einem bestimmten Gebiet (z. B. Gedächtnis, Kunst, Mathematik). Die Gleichzeitigkeit von Krankheit und Genialtät sind im autistischen Krankheitsbild keine Seltenheit.

siehe: Varoqueaux, F., Aramuni, G., Rawson, R.L., Mohrmann, R., Missler, M., Gottmann, K., Zhang, W., Südhof, T.C. and Brose, N.: Neuroligins determine synapse maturation and function. Neuron 51, 741-754 (2006)

ausführliche Informationen unter www.autism.com/

 

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