Psychopatho-Logik: Retroflexive Affektlogik
Psychopatho-Logik: Retroflexive Affektlogik

Psychopatho-Logik: Retroflexive Affektlogik

Beitrag, Deutsch, 6 Seiten, Daedalus Verlag

Herausgeber / Co-Autor: Volker Halstenberg

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Quelle: Volker Halstenberg


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Psychopatho-Logik: Retroflexive Affektlogik

Kultur und Gesellschaft konstruieren bei der individuellen Konstruktion von Welt und Wirklichkeit fleißig mit, indem sie dem Einzelnen eine symbolische Welt-Brille aufsetzen, die das bewusste und unbewusste Erleben und Verhalten bestimmt.
Unbewusste Prozesse erklären nicht nur die angerissenen Fehlfunktionen (Verlegen, Versprechen, etc.), sondern ganz allgemein alle vermeintlichen Diskontinuitäten und Sprünge in unserem bewussten Selbst- und Welterleben. Wenn aktuelle Bewusstseinsinhalte in keinem ersichtlichen Zusammenhang stehen mit dem, was zuvor in uns vorging, liegt das daran, dass dieses Erleben mit einem unbewussten – nicht mit einem bewussten – psychischen Vorgang korrespondiert. Da das Bewusstsein »lückenkonfiguriert« ist, steht es unter permanentem Interpolierungszwang, muss sich selbst mit Sinn supplementieren und diese Supplementierung übernimmt das Unbewusste. Es ist Lückenfüller des Bewusstseins.
Noch einmal: Nichts im psychischen Erleben geschieht grundlos. Alles hat Sinn, auch wenn er nicht sofort durchschaubar ist. Kausalität klingt an, aber eben von anderer Natur als die gemeinhin bekannte der makroskopischen Welt. Ich spreche von zirkulären Rückkoppelungen und erinnere daran, dass ein bewusster oder unbewusster Impuls oder ein Erlebnis nicht nur Anschlusssequenzen auslöst, sondern selbst wieder von diesen rück-beeinflusst wird.
Offensichtlich beeinflusst nicht nur die Vergangenheit die Gegenwart, sondern ebenso die Gegenwart die Vergangenheit. Persönliche Vergangenheit als interne Repräsentation zurückliegender Erlebnisse ist wie alles »Dahingeflossene« eine Zustandsfunktion gegenwärtigen Erlebens. Es unterliegt affektlogischen Bedeutungs-Schwankungen, interferiert zwischen stimmig und unstimmig, rekonstruiert sich zuweilen schön und dann wieder auch nicht. C’est la vie.
Wohlgemerkt implizieren diese reminiszenten Rekonstruktionen und Valenz-Attributionen keinesfalls münchhausianischen oder baudolinischen Erzählspielraum oder unendliche Selbstbeschreibungs-Möglichkeiten, sondern imponieren mehr durch kreative Annäherungen an zurückliegende Fakten.
Über Ursache-Wirkungs-Ursache-Rückkoppelungen – mir kommen gerade Engels Somato-Psycho-Somatosen in den Sinn – zwischen psychischen Erlebnissen, man könnte von retroflexiver Affektlogik sprechen, war sich Freud relativ früh im Klaren. Schon am 6. Dezember 1896, in der Frühzeit psychoanalytischer Theorieentwicklung, schrieb er an seinen Intimus Wilhelm Fließ: „Ich arbeite mit der Annahme, daß unser psychischer Mechanismus durch Aufeinanderschichtung entstanden ist, indem von Zeit zu Zeit das vorhandene Material von Erinnerungsspuren eine Umordnung nach neuen Beziehungen, eine Umschrift erfährt.” (FREUD 1950/185)
Aufeinanderschichtung und Umschrift beschreiben nichts anderes als Strukturdeterminierung und affektlogische Rückkoppelung. Hier-und-Jetzt und Dort-und-Damals sind via Sinnschleife miteinander verbunden und stören sich gegenseitig. Netzwerk-Zirkularitäten.

Zeigen sie sich nicht erschreckend deutlich beim ‚Kind im Manne‘, wenn er von temporären Revitalisierungen phallisch-phasiger Affektlogik übermannt, sein Ödipusdrama von einst in einem aktuellen Interaktions-Kontext neu inszeniert? Möglicherweise mit der unbewussten Einverständnis-Erklärung der zugehörigen anderen Seite.
Weder Ödipus- noch Elektra-Komplex noch andere gravierende Strukturniederschläge entschwinden jemals ganz, sondern fordern zeitlebens immer irgendwelche Arten der Meisterung. Der individuelle Erlebenshorizont gleicht einem in sich selbst zurückgekrümmten Einstein’schen Kosmos.

Auch der Künstler thematisiert, selektiert und komponiert unter dem affektlogischen Einfluss von Kindheitserlebnissen, alten und neuen und neuen alten Ängsten. Vier Beispiele aus verschiedenen Bereichen. 

      „Manchmal ist mir, als wäre alles schon
     in der Kindheit beschlossen gewesen.”
     Robert Musil (1984)

Alfred Hitchcock
Dass in den Filmen des katholisch-jesuitisch erzogenen Thriller- und Suspense-Spezialisten Alfred Hitchcock Angst, Schrecken, Bedrohung und Schuld eine zentrale Rolle spielen, wird mit seiner von ebendiesen Erlebnisphänomenen geprägten Kindheit zu tun haben. Er wurde wegen eines geringfügigen Lausbubenstreichs als sechsjähriger Ödipus auf Anweisung seines Vaters von der Polizei in eine Arrestzelle gesperrt, was in diesem Alter ein einschneidendes Erlebnis gewesen sein dürfte.
Ferner wird die katholische Lustfeindlichkeit und Prüderie im England des beginnenden 20. Jahrhunderts im jungen Hitchcock sexuelle Obsessionen genährt haben, der er später kompensatorisch in seinen Filmen auslebte. Angefangen von nekrophiler Erotik in »Vertigo« über Voyeurismus in »Rear Window« bis hin zu Vergewaltigung und Lustmord in »Frenzy«. Sein weibliches Nonplusultra der mondänen, spröden Schönheit mit erotischem Tiefgang, femme fragile und femme fatale in einem – wie man sie in seinen blonden Lieblingsdarstellerinnen Grace Kelly, Eva Maria Saint, Kim Novak und Tippi Hedren findet –, scheint frühen Sexual-Fantasien entsprungen. Angesichts seiner folgenden Aussage wird deutlich, dass Hitchcock diese Vorliebe beruflich zu camouflieren versuchte: „Ich brauche Damen, wirkliche Damen, die dann im Schlafzimmer zu Nutten werden. ... Der Sex darf nicht gleich ins Auge stechen.“
Mit »Spellbound«, in dessen Mittelpunkt ein unter traumatischem Gedächtnisverlust leidender Psychiater steht, hat Hitchcock übrigens einen psychoanalytisch inspirierten Film gedreht, bei dem Salvador Dali für die Inszenierung der Traumsequenzen verantwortlich zeichnete. Mehr zu Hitchcock-Filmen in meinem Buch.

Edgar Allan Poe
Ähnlich wie bei Hitchcock infantile Angsterlebnisse via Strukturdeterminierung berufliches Schaffen programmierten, lässt sich bei Edgar Allan Poe der frühe Tod der Eltern, besonders der Mutter, mit der Zentralthematik seines Kunst-Wirkens in Verbindung bringen. Poe, 1811 in Baltimore geboren, verlor Vater und Mutter im Alter von zwei Jahren. Beide starben an Tuberkulose.
Auch Poes dichterische und erzählerische Werke sind durchdrungen von Angst, Qual – speziell Klaustrophobie –, Grauen und Tod. Besonders der Tod schöner Frauen hatte es ihm angetan. Seine berühmte Bemerkung in der »Philosophy of Composition« (1829) „Der Tod einer schönen Frau ist ohne allen Zweifel der poetischste Gegenstand der Welt” wird verständlich, wenn man unterstellt, dass er artistisch immer wieder den Augenblick reproduzieren wollte, wo der Tod ihn mit seiner Mutter wiedervereinen würde.

Seine unbestreitbar sadonekrophile Veranlagung, Folge einer traumatischen Aversion gegen den Geschlechtsakt – wir erinnern uns an Leonardo –, hat Edgar Allan arbeitstechnisch sublimiert. Ausführlich nachzulesen bei Prinzessin Marie Bonaparte, einer Freud-Schülerin.

Fedor Dostojewski
Vatertötung, Schuld, Sühne und Verantwortungs-Bewusstsein spielen in den Werken des 1821 in Moskau geborenen Prosadichters und krankhaften Spielers eine zentrale Rolle. Höchstwahrscheinlichkeit auf die Tatsache zurückzuführen, dass Dostojewskis eigener Vater einem Gewaltverbrechen zum Opfer fiel. Dieses traumatische Erlebnis in Verbindung mit reaktualisierter ‚Ödipuslogik‘ bildet den Angelpunkt seiner Schuld- und Straf-Neurose, die sich auf somatischem Wege in Form der Epilepsie Bahn brach. Neurophysiologisch handelt es sich dabei um ungebremste Entladungen zentralnervöser Spannungszustände. Klinischer Ablauf: Die Hälfte aller epileptischen Anfälle beginnt mit einer subjektiven Vorempfindung, der Aura, die oft mit einem Initialschrei in Bewusstlosigkeit übergeht. Parallel dazu: tonischer Krampf (plötzliches Hinstürzen) mit Atemstillstand (ca. 10 Sek.), dann rhythmisches Gliederzucken (klonischer Krampf), Dauer ca. eine Minute. Oft Zungenbiss, Schaum vor dem Mund. Erwachen in Verwirrtheit, Dämmerzustand oder Übergang in Erschöpfungsschlaf. Postparoxysmale Befindlichkeit: Der Kranke erlebt den Anfall als befreiend, wenn vorher ein Zustand quälender psychobiologischer Unruhe bestand. Kam der Anfall dagegen out of the blue, fühlt er sich danach eher bedrückt. Bei chronifizierter Epilepsie ist oft eine Charakterveränderung ins Reizbare und Aggressive festzustellen.

„Die »epileptische Reaktion« ... stellt sich ohne Zweifel auch der Neurose zur Verfügung, deren Wesen darin besteht, Erregungsmassen, mit denen sie psychisch nicht fertig wird, auf somatischem Wege zu erledigen,” schreibt Freud in >Dostojewski und die Vatertötung<.

Affektive Epilepsie ist eine Abart konversionsneurotischer Hysterie – die ihrerseits Ersatzhandlung und Ausdruck unbewussten Konflikts ist – und unterscheidet sich ätiologisch von organisch bedingter Epilepsie. Genau genommen fällt Dostojewskis »Konversions-Epilepsie« unter die Kategorie der Psychosomatosen, in deren Krankheitsbild das Vegetativum sozusagen emotionale Funktionen übernimmt.
Dass Dostojewski während seiner politischen Strafzeit in Sibirien anfallfrei war, bestätigt, dass die epileptischen Anfälle ursprünglich auf einen unbewussten Strafakt zurückzuführen sind, den das im Zuge ödipalen Schulderlebens sadistisch gewordene ÜBER-ICH dem ICH aufnötigte, dessen Masochismus jedoch nicht genügend ausgeprägt war, so dass, um in den Genuss einer unbewussten Gewissenserleichterung zu kommen, Somatisierung den Erregungs-Rest erledigen musste. Dem psychischen Algorithmus »Schuld -- ÜBER-ICH-Sadismus -- ICH-Masochismus -- Somatisierung -- Gewissensentlastung« wurde in Sibirien die energetische Basis entzogen. Das ÜBER-ICH ist erfroren. Damit wurde die Kettenreaktion unterbrochen. Kein Anfall mehr. An die Stelle intrapsychischer Bestrafung trat als funktionales Äquivalent das aufgezwungene Leiden von Väterchen Zar, der quasi die Rolle eines Außenregulators spielte. Auf eine Kurzformel gebracht: Fremdbestrafung statt Selbstbestrafung. Für das Gewissen einerlei, denn es kommt nämlich nur darauf an, dass es einem schlecht geht, gleichgültig in welcher Weise. 

Friedrich Hölderlin
Der größte Lyriker deutscher Sprache (1770-1843), in seinem späten Leben dem katatonen Wahnsinn zum Opfer gefallen, verlor in jungen Jahren sowohl Vater wie Stiefvater durch Tod. Brüder und Schwestern starben ebenfalls jung. Lange bevor er die Kindheit hinter sich hatte, wusste er bereits viel vom Tod, womit sich sein früh entwickelter Hang zur Trauer erklärt. Die Mutter, die er später ironisch mit »Verehrungswürdigste« ansprach, nach zwei vorteilhaften Ehen zwar wohlhabend, doch überprotektiv und streng, hielt den Sohn lange in beschämender Abhängigkeit.
Vermutlich war Hölderlins Mutter aufgrund eigener Kindheitskonflikte, die möglicherweise mit frustrierten Selbstabgrenzungs- und Autonomiestrebungen in der Wiederannäherungsphase in der zweiten Hälfte ihres zweiten Lebensjahres zusammenhingen, unfähig, ihren Sohn freizugeben. Sie benötigte ihn dann dringend zur Stabilisierung ihrer narzisstisch gestörten Selbstorganisation und manövrierte ihn in eine Zwangs-Symbiose, aus der er sich – trotz aller Anstrengungen – zeitlebens nicht befreien konnte. Diese nackte Spekulation geht d'accord mit unserer Überlegung (Punkt 5), dass Schizophrenie auf einer propellierenden Nicht-Unterscheidung beruhen kann.
Ansozialisierte Hypersensibilität und Verletzlichkeit versuchte Hölderlin während seiner Zeit in den Klosterschulen Denkendorf und Maulbronn durch Abschottungsstrategien zu kompensieren. Affektlogische Klausur hinter Klostermauern. „Shades of the prison-house begin to close/Upon the growing boy,” formulierte in England ein entfernter Leidensgenosse namens Wordsworth. Nichtsdestoweniger blickt Hölderlin in retrospektiver Idealisierung auf diese »idyllisch-glückliche Zeit« zurück.

     Ihr Stunden meiner Knabenfreude
     Stunden des Spiels und des Ruhelächelns
     Ich seh' euch wieder - herrlicher Augenblick!

All seine Werke, inklusive dem Hyperion-Roman, spiegeln frühe Frustrationserlebnisse und Verlassenheitsängste, atmen eine eigentümliche Einsamkeit; eine Einsamkeit, die der Dichter als Kind erfahren musste und die ihn niemals mehr loslassen sollte. Lapidar spricht er aus, was offensichtlich ist: „Und so bin ich allein.” (nach BEISSNER/II, 82-3)
Die mehrfachen Selbstdifferenzierungs- und Selbstheilungs-Versuche, als solche kann man seine umtriebigen Auslandsfluchten, bei denen er auf eigenen Wegen ein unabhängiges Dichterleben realisieren wollte, wohl bezeichnen, brachten in aller Regel nicht den erhofften Erfolg. Mit dem Gefühl des Gescheitertseins kehrte er oft für kurze Zeit nach Hause zurück. „Freilich ringt wohl jeder, der Trübsal duldet, nach Heimkehr” (HOMER: Ilias). Niedergeschlagen sehnte er sich nach seelischer Geborgenheit und musste doch erkennen, dass die physische Präsenz in der Heimat und das seelische Sich-zu-Hause-fühlen bei ihm weit auseinanderklaffen, und dass ihm letzteres auf ewig verwehrt ist. Er ist „homeless at home” (John Clare). Ohne seelische Heimat, die Sicherheit und Stabilität gewährt, steht er draußen, gleich Empedokles. „Weh dem, der keine Heimat hat” (NIETZSCHE in: Vereinsamt).

Wo immer Hölderlin Zuflucht suchte: stets und überall war die Einsamkeit sein ständiger Begleiter. Unwillkürlich denkt man an einen Ausspruch seines französischen Zeitgenossen Jean-Jacques Rousseau: „Wo willst du hinfliehen? Das Gespenst ist in deinem Herzen.” (Nouvelle Héloîse)

Gevatter Tod, den er schon in Kinderjahren kennenlernte und die heraufbeschworenen Schuldgefühle – Schuld wegen der bei aller Trauer unbewusst vorhandenen ödipalen Befriedigung beim Tod seines Vaters – legten vielleicht einen weiteren Grundstein zur Zementierung schizophrener Ambivalenz in Form des Sehnens nach Schuldlosigkeit und des Wissens um die Unerreichbarkeit derselben.
Hölderlin litt sowohl an einer ausgeprägten Vater- wie auch Mutter-Ambivalenz. Letztere mag pathogener gewirkt haben, weil sie zeitlich früher, vermutlich in der Wiederannäherungsphase, einzuordnen ist. Ihre eigentümliche Affektlogik, das spannungsvolle Zirkulieren zwischen Kollusion und Individuation, Anklammern und Wegstoßen, Selbstbehauptung und Fremdbestimmung, Differenzierung und Entdifferenzierung, zeigt eine eklatante Ähnlichkeit zu Hölderlins Denken und zur Struktur seiner elegischen Werke: Sie oszillieren zwischen euphorischem Sehnen und unabwendbarem Verlust.

Ebenso kennzeichnend ist die Simultaneität von antizipierter Nähe und irrationaler Ferne; von physischer Anwesenheit und emotionaler Abwesenheit; von vergangenem Glück und Wiedererlangungs-Wunsch. Hölderlin versucht sich am Erreichen des Unerreichbaren. Das Ersehnte oder die Rückkehr werden oft als unmöglich dargestellt. Äußerlich mag es Realität werden, allein es fehlt das gefühlsmäßige Erleben.
Hyperion, der durch Schmerz und Reflexion Erhöhte, kehrt heim, fühlt und lebt aber wie ein Eremit. Gleich Hölderlin. Der Wanderer in der Ode »Abendfantasie« wird aufgenommen in eine vollkommene Idylle, nur der Dichter fühlt sich fremd und ausgeschlossen. „... ist alles freudig; warum schläft denn nimmer nur mir in der Brust der Stachel?”
Empedokles, durch seinen blasphemischen Willen zur Macht („alles weiß ich, alles kann ich meistern”) prometheische Schuld auf sich ladend, wird von den Göttern bestraft, der sizilischen Heimat (Agrigent) verwiesen und lebt in der unmöglichen Hoffnung auf Rückkehr. Doch ist diese Expatriation keinesfalls Ursache seines An-sich-und-der-Welt-Leidens, sondern eher nachgetragenes Korrelat innerer Zerrissenheit. Am Ende, als Empedokles' Kraft aus Hoffnung nachlässt, tiefe Depression die Oberhand gewinnt, stürzt er sich in den Ätna.
Fundamentale Trauer als fundamentaler affektlogischer Strukturdefekt, wohl das zentrale Psychodrama Friedrich Hölderlins, offenbart sich noch einmal mit schonungsloser Wahrhaftigkeit in einem seiner späten Gedichte, das er als chronisch Schizophrener in seinem Refugium am Neckarufer schrieb: 

     Das Angenehme dieser Welt hab' ich genossen,
     Die Jugendstunden sind, wie lang! wie lang! verflossen,
     April und Mai und Julius sind ferne,
     Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne!

Ähnlich Bashos Haikus imponiert Hölderlins Vierzeiler durch »lupenreine« Beobachtung, kraftvoll-komprimierten Ausdruck und tiefsinnigen Eindruck. Die poetische Schließung auf der konnotativen Ebene ist nahezu perfekt. Man erfühlt den anderen, Jenseits-orientierten Erlebenszustand des Dichters. Das sprechende ICH der lyrischen Rede hermetisiert seine eigene Zeit und seinen eigenen Raum.
Zur psychologischen Unterscheidung zwischen Lyrik, Epos und Drama meinte Freud 1942:

„Die Lyrik dient vor allem dem Austoben intensiver vielfacher Empfindungen, wie seinerzeit der Tanz, das Epos soll hauptsächlich den Genuß der großen heldenhaften Persönlichkeit in ihren Siegen ermöglichen, das Drama aber tiefer in die Affektmöglichkeiten herabsteigen, die Unglückserwartungen noch zum Genuß gestalten, und zeigt daher den Helden im Kampf vielmehr mit einer masochistischen Befriedigung im Unterliegen.”

Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass Friedrich Hölderlin nicht nur Lyriker, sondern auch Epiker und Dramatiker war und dass er – insbesondere in seiner katatonen zweiten Lebenshälfte – Stileigenschaften vorwegnahm, die erst im 20. Jahrhundert salonfähig wurden. Hölderlin steht den Modernen à la Joyce, Arp, Picasso und Schönberg näher als seinen eigenen Zeitgenossen Goethe und Schiller.

ausführlich in: Volker Halstenberg: Psychopatho-Logik. Kybernetik - Psychoanalyse - Kunst - Kreativität, Daedalus-Verlag 2003. www.daedalus-verlag.de/front_content.php

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